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Linkes Blog aus Ostfriesland

Der Fall Schlecker – Ausbeutung mit System

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Geschrieben von Redaktion Der Funke
Anton Schlecker ist der verhassteste Unternehmer der Republik. Noch vor Kurzem hätte er sich so viele Negativ- schlagzeilen und Kritik nicht träumen lassen. Hals über Kopf hat er seine Leiharbeitsfirma Meniar in Zwickau geschlossen und ihren Internetauftritt gekappt.

Dass der in Verruf gekommene Schlecker gelobte, ab sofort für seine XL-Märkte keine Leiharbeiter mehr über Meniar anzuheuern, ist Folge des massiven Drucks, den mutige Verkäuferinnen, Betriebsräte und ihre Gewerkschaft ver.di seit einem Jahr aufgebaut haben. Mit beharrlichem Einsatz erreichten sie eine Solidarisierung und ein öffentliches Echo, dem sich auch konservative Medien und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen nicht entziehen konnten. Wo der Widerstand wuchs, wurden Kündigungen verhindert. Schleckers ruiniertes Ansehen ließ offenbar auch die Umsätze in den XL-Märkten spürbar einbrechen.

ver.di hat nun alle Hände voll zu tun und spürt erste Wirkungen jahrelangen Engagements. So haben viele Verkäuferinnen erkannt, dass sie auf sich gestellt verloren sind und in bisher „betriebsratsfreien Zonen“ Interessenvertretungen aufbauen müssen. Nicht zufällig ist binnen eines Jahres die Zahl der regionalen Betriebsratsgremien im Konzern bundesweit von 120 auf 160 angewachsen.

Schleckers Angriffe haben inzwischen offenbar so viele Betroffene wach gerüttelt, dass allein 2009 über 1000 Schlecker-Beschäftigte in die Gewerkschaft ver.di eingetreten seien – Tendenz steigend. Das „brutale Vorgehen“ Schleckers mit Kündigungsbriefen und dem „Reinpressen“ in Meniar habe den Zulauf beschleunigt, so ein Sprecher von ver.di. In einigen Regionen sind mittlerweile fast alle Beschäftigten in ver.di organisiert.

All dies zeigt: Gewerkschaften können auch unter Schwarz-Gelb etwas anstoßen, und zwar nicht durch höfliche Diplomatie mit der Politik, sondern durch Mobilisierung und Bündnisarbeit. Nun könnten sich auch in bisher „betriebsratsfreien“ Schlecker-Regionen Betriebsräte bilden. Viele Verkäuferinnen fürchten jedoch weiter um ihre Existenz.

Dass die Sorgen der Verkäuferinnen berechtigt sind, zeigen aktuelle Ankündigungen Schleckers. „Wir müssen unser gesamtes Geschäftsmodell umwälzen“, so der Konzernchef, der in diesem Jahr weitere 500 Filialen schließen will. Ver.di geht davon aus, dass diese Zahl noch untertrieben ist.

Der Schlecker-Skandal hat die Spaltung im Arbeitgeberlager gefördert. „Schlecker hat es geschafft, unsere Branche in ein schlechtes Licht zu rücken“, klagt Ludger Hinsen vom Bundesverband für Zeitarbeit (BZA). Er blicke „mit Sorge darauf, was der Politik dazu einfällt“, kommentierte er die neu aufgeflammte Diskussionen über strengere Regeln.

Hinsen weiß, dass Zustände wie bei Schlecker/Meniar kein Einzelfall sind und auch bei anderen Handels- und Industriebetrieben zum Alltag gehören. Seine Sorgen um die Zukunft einer weitgehend überflüssigen Branche sollten für die Gewerkschaften Ansporn sein, um die Dynamik der Schlecker-Kampagne weiter zu treiben. Für die LINKE, Gewerkschaften und Betriebsräte sollte dies ein Ansporn sein, um über die Forderung nach strengeren Regeln und Aufhebung der 2003 beschlossenen Liberalisierung der „Arbeitnehmerüberlassung“ hinaus das System der Leiharbeit generell in Frage zu stellen. Die Liberalisierung hat Gewerkschaften und Betriebsräte geschwächt und einige Profiteure reich gemacht.

LINKE-Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann hat am Donnerstag im Bundestag die Frage aufgeworfen, wozu angesichts zunehmender Flexibilität in der Arbeitswelt und der Möglichkeit befristeter Arbeitsverträge Leiharbeit überhaupt notwendig ist. In diesem Sinne hat sich jetzt auch DIE LINKE Baden-Württemberg für ein klares Verbot der Leiharbeit ausgesprochen. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklaverei und überflüssig. Sie lässt sich auch mit noch so vielen Stellschrauben nicht wirklich humanisieren. Ein Verbot wäre ein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN, da SPD und Grüne, die 2003 mit der Liberalisierung solche Zustände möglich gemacht haben, die Leiharbeit nur erträglicher machen wollen, ohne sie ganz in Frage zu stellen.

Ob Hartz-Gesetze, Ein-Euro- oder Minijobs oder Leih- und Zeitarbeit: sie alle haben dazu beigetragen, dass die Rechte der Arbeitnehmer geschwächt wurden. Gewerkschaften sind in ihrer Handlungsfähigkeit gewaltig eingeschränkt worden. Junge Menschen erhalten heute so gut wie keinen Arbeitsplatz, ohne durch die Zeit- und Leiharbeit gejagt zu werden. Wer einen Leiharbeitsvertrag besitzt, hat Schwierigkeiten, bei der Bank einen Kredit zu erhalten oder eine Wohnung zu mieten. Die Gründung einer eigenen Familie wird so erheblich erschwert. Da das Geld in der Regel nicht reicht, werden Zweit- und Drittjobs angenommen. An ein normales gesellschaftliches Leben ist nicht zu denken. Das Überleben steht im Mittelpunkt. Vom kulturellen Leben sind diese Beschäftigten ausgeklammert.
Zeitarbeit/Leiharbeit wirkt disziplinierend auf Belegschaften und erschwert die Arbeit der Betriebsräte. Beschäftigten wird systematisch vor Augen geführt was passieren kann, wenn man heute einen neuen Job haben will. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Aussichten bei einer Leihfirma zu enden, sorgt für eine selbstauferlegte Ruhe im Betrieb. Diese Politik der Unternehmer bietet Anreize für ein weiteres Absenken der Löhne und Gehälter. Durch Einsparungen beim Personal wird der Druck auf die Beschäftigten erhöht und der Profit zusätzlich gesteigert.

Durch den Vorstoß der Linksfraktion war Schlecker im November erstmals Thema einer Anfrage im Bundestag und die Leiharbeit generell Gegenstand einer zweistündigen Bundestagsdebatte am Donnerstag, 29. Januar 2010. Lassen wir nicht locker und bauen eine breite Widerstandsfront gegen Leih- und Zeitarbeit auf. Schlecker ist überall.

31. Januar 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, Gewerkschaften, News, Politik | , , | 1 Kommentar

Niedersachsen: Bye Bye Garrelt Duin!

Der niedersächsische SPD-Vorsitzende Garrelt Duin hat gestern bekanntgegeben, dass er beim Landesparteitag im Mai nicht wieder kandieren werde und sich stärker in Berlin engagieren wolle.

Die Spatzen pfiffen es schon lange von den Dächern, dass große Teile der niedersächsischen SPD, außerhalb Ostfrieslands, Duin als den Verhinderer für einen programmatischen Neuanfang nach den erdrutschartigen Niederlagen bei den letzten Landtags- und Bundestagswahlen betrachteten. Der Seeheimer-Sprecher aus Hinte gehört zu den Kräften in der SPD, die es nicht für nötig halten den Kurs der Schröder-SPD kritisch zu reflektieren und von der Agenda 2010 oder den Hartz-IV-Gesetzen Abschied zu nehmen. Mit einer Weiter-so-Politik wird die SPD auch bei den kommenden Wahlen weiter an Stimmen verlieren, das haben zumindest große Teile der Partei erkannt, bei Garrelt Duin muss man das bezweifeln. Zumindest hat er gemerkt, dass er aus allen Gliederungen der Niedersachsen-SPD Gegenwind verspürte. Ihm wird ebenfalls vorgeworfen, dass er im Fall der  Delmenhorster Abgeordneten Swantje Hartmann komplett versagt und sie aus der Partei gemobbt habe. Duins ehemaligen Gefährtin aus Juso-Zeiten wurde eine große Zukunft in der SPD prophezeit, mittlerweile ist  sie zur CDU übergetreten.

Mit Duin als Herausforderer von Ministerpräsident Wulff hätte die SPD bei den Landtagswahlen 2013 keine Chance, da beide dieselbe neoliberale Politik vertreten und ihnen die Interessen der arbeitenden Menschen, der Arbeitslosen und der sozial Benachteiligten eh am Hut vorbeigehen. Duin ist eine schlechte Schröder-Kopie, dem man bescheinigen muss, dass er sich lieber im Kreise  von Wirtschafts- und Industrievertretern ablichten lässt, als dass er sich wirklich um die Sorgen und Nöte der WählerInnen kümmert. Deshalb ist der geplante Rückzug aus der niedersächsischen Politik kein Verlust, sondern bietet der SPD die Chance auf einen Neuanfang.

Der SPD-Politiker Haase (Emden) sieht in Duin „einen Kandidaten für einen Staatssekretärsposten oder gar ein Ministeramt“, aber auch in Berlin sind die „Genossen“ nicht von Duins Qualitäten überzeugt. Bei der Wahl des SPD-Präsidiums am 23.11.09 erhielt der niedersächsische SPD-Vorsitzende und wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion nur 14 von 45 Stimmen und gehört dem Präsidium nicht an. D. h. zumindest zwei Drittel der SPD-Vorstandsmitglieder hatten erkannt, dass Duin mit seinen gescheiterten und überholten Politikvorstellungen nicht mehr in das Präsidium seiner Partei gehört.

Die LINKE in Ostfriesland schaut interessiert nach Hannover, in der Hoffnung, dass es der SPD gelingt einen Kandidaten/eine Kandidatin zu finden, welche(r) sich auf sozialdemokratische Tugenden besinnt, um so die Abwahl der schwarz-gelben Koalition 2013 in Angriff zu nehmen.

(Tony Kofoet)

30. Januar 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, News, Niedersachsen, Ostfriesland, Seeheimer, Sozialpolitik, SPD | , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Niedersachsen: »Das ist vor allem ein Angriff auf die Lehrer«

In Niedersachsen sollen 120000 Landesbeamte zwei Jahre länger arbeiten. Ein Gespräch mit Manfred Sohn

Interview: Gitta Düperthal
Manfred Sohn ist einer der beiden Frak­tionsvorsitzenden der Partei Die Linke im niedersächsischen Landtag

Die Fraktion der Linken im Landtag in Niedersachsen kritisiert den Vorstoß von Ministerpräsident Christian Wulff (CDU), das Pensionsalter niedersächsischer Beamter auf 67 Jahre anheben zu wollen. Welche Argumente setzen Sie dagegen?

Im Kern ist das eine Kürzung –was auch jeder weiß. Hier in Niedersachsen soll sie 120000 Landesbeamte betreffen. Es handelt sich um einen Bruch mit bisherigen Positionen. Im Jahr 2007 hatte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Debatte über die Pension mit 67 ausgelöst, die 2008 zur entsprechenden Gesetzgebung führte. Damals sagte ein Sprecher des niedersächsischen Innenministeriums, das wolle man nicht, weil die Landesbeamten bereits durch den Wegfall von Urlaubs- und Weihnachtsgeld jährliche Einbußen von insgesamt 450 Millionen Euro hinnehmen hätten müssen – woran sich bis heute nichts geändert hat.

Das ist vor allem ein Angriff auf die Lehrer, die etwa 60 Prozent der niedersächsischen Beamten ausmachen – betroffen sind aber auch Polizei- und Finanzbeamte sowie Feuerwehrleute. Gegen die Lehrer plant die Landesregierung sogar einen Doppelschlag: Sie will außerdem Stellen streichen, die dann durch Mehrarbeit ausgeglichen werden müssen. Dabei zeigen die von der Landesregierung – aufgrund einer Anfrage von uns! – genannten Zahlen, daß Lehrer durchschnittlich mit 61 Jahren in Pension gehen, weil sie einen besonders anstrengenden Beruf haben. Folge der Erhöhung des Rentenalters wird sozialer Abstieg sein – rein rechnerisch ist das eine Rentenkürzung von 7,2 Prozent.

Unter welchem besonderen Streß stehen Lehrer denn?

Zu große Klassen, das Turbo-Abitur zwingt, mehr Stoff in kürzerer Zeit zu bewältigen, und es gibt die zunehmende Perspektivlosigkeit von Jugendlichen in Haupt- und Realschulen. Eine Studie der Universität Lüneburg hat festgestellt, daß es sich um eine psychisch hoch belastete Berufsgruppe handelt. Wer es sich finanziell leisten kann, versucht, früh in Pension zu gehen.

Wie kommt das an, wenn ausgerechnet der wegen eines Luxusfluges in den Weihnachtsurlaub in die Kritik geratene niedersächsische Ministerpräsident sich auf Kosten anderer als Sparbrötchen profilieren will?

Da könnte man sagen: Wer Luxusklasse fliegt, kann sich in die Belastungssituation von Arbeitnehmern nicht mehr hineinversetzen. Man bräuchte aber nur Zahlen sprechen zu lassen. Nur jeder zehnte schafft es, bis zum 65. Lebensjahr berufstätig zu sein. Die Erhöhung des Rentenalters ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die weniger angenehme Arbeitsbedingungen als ein Ministerpräsident und weniger Streicheleinheiten von der Wirtschaft zu erwarten haben.

Was halten Sie vom konservativen Argument, es gebe Berufe, in denen ältere Menschen gern länger im Berufsleben verweilten?

Da werden Einzelfälle zitiert. In diesem Fall sollte man zur Kenntnis nehmen, daß Aufrufe der Landesregierung an die Lehrkräfte, ihren Beruf länger auszuüben, bislang verpufft sind.

James Vaupel, geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung in Rostock, will das Rentenalter ganz abschaffen…

Gewerkschaften haben erkämpft, daß Arbeitnehmer nach langem Erwerbsleben ihre Arbeitskraft nicht weiter zu Markte tragen zu müssen. Von allen Ecken wird jetzt dieses Prinzip angegriffen.

Rechte Experten behaupten, das Rentensystem biete falsche Anreize: Menschen seien eher bereit zu arbeiten, wenn sie das Geld nötiger brauchen …

Diese Argumentation ist hart am Plädoyer für die allgemeine Einführung von Zwangsarbeit. Übersehen wird, daß die Rente ein Lohnbestandteil ist – ein ganzes Arbeitsleben lang einbezahlt! – und keine milde Gabe. Diesen Lohnbestandteil will die rechte Mischpoke vorenthalten.

Was kann man dagegen unternehmen?

Wir hoffen auf einen Effekt wie vor eineinhalb Jahren. Damals haben 11000 Lehrer vor dem Landtag gegen Verschlechterungen an den Schulen demonstriert. DGB, GEW und auch konservative Gewerkschaften haben jetzt ihren Unmut geäußert.
Quelle: jungeWelt 28.01.2010

27. Januar 2010 Posted by | Bildungspolitik, CDU/FDP, Deutschland, Die LINKE, News, Niedersachsen, Politik | , , , | 1 Kommentar

Der Horror auf Haiti und die Mitschuld des Imperialismus

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Geschrieben von Socialist Appeal Britannien
Friday, 22 January 2010
Man muss schon ein Herz aus Stein haben, wenn man bei den Schreckensszenen aus Haiti nicht gerührt ist. Wir müssen aber eine solche Gelegenheit auch nutzen, um nachzudenken und zu überlegen, wie wir Katastrophen mit solchen katastrophalen Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Zukunft verhindern können.

Uns wird immer wieder erklärt, dass es sich bei dem Erdbeben um eine Naturkatastrophe gehandelt habe, um ein „unabwendbares Ereignis“. In gewisser Weise war es das.
Uns wird gesagt, dass die „internationale Gemeinschaft“ ihr Bestes gibt. Und wir wissen, dass gute und tapfere Menschen aus vielen Ländern als HelferInnen bis an ihre Grenzen gehen, ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen und den Überlebenden Trost spenden.

Uns ist bewusst, dass die HelferInnen nicht einfach über die Insel fahren können, um die Hilfsbedürftigen mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Infrastruktur Haitis war bereits vor dem Erdbeben hoffnungslos unzulänglich. Der Flughafen erweist sich als Nadelöhr. Die Straßen sind nicht befahrbar.
Hundertausende sind bereits tot. Weitere Tausende leiden an Hunger, Durst und Krankheiten. Die Menschen könnten aus Verzweiflung anfangen zu plündern. Handelt sich hierbei ausschließlich um eine natürliche Tragödie?
Haiti ist ein Land, das von Erdbeben und Wirbelstürmen heimgesucht wird. Die Infrastruktur des Landes war bereits vorher durch eine Reihe von Wirbelstürmen zerfetzt worden. Die Nachbarinsel Kuba ist ebenfalls Opfer derselben Naturkatastrophen, aber nur vier Menschen sind dort infolge dieser Welle von Katastrophen ums Leben gekommen. Kuba ist kein wehrloses Opfer des Weltkapitalismus. Kuba hat Pläne entworfen, um das Leben seiner BürgerInnen vor Naturkatstrophen zu schützen.

Die Erdbebenkatastrophe, die Haiti heimgesucht hat, ist auch auf menschliche Einflüsse zurückzuführen. Die Armut des Landes ist kein Zufallsprodukt, es wurde arm gemacht und arm gehalten. Haiti ist das ärmste Land in der westlichen Hemisphäre, mit der schlechtesten Infrastruktur und einem Volk, das aufgrund der Intrigen des Imperialismus, äußerst verwundbar bei Katastrophen und Krankheiten ist.

Haiti wurde nicht immer als armes Land betrachtet. Im 18. Jahrhundert wurde die Insel als Quelle eines enormen Wohlstandes wahrgenommen. Als französische Kolonie produzierte es 60% des in Europa konsumierten Kaffees und 40% des Zuckers. Es produzierte mehr Wohlstand als die zu Britannien gehörenden Westindischen Inseln und war die „Perle der Antillen“.

Der Wohlstand rührte von der Sklaverei. Die schwarzen Sklaven erhoben sich während der Französischen Revolution. Unter der Führung von Toussaint-l’Ouverture unternahmen sie den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand in der Welt. Sie vertrieben alle Kolonialarmeen und erklärten 1804 ihre Unabhängigkeit.
Wie Kuba mehr als 150 Jahre später, wurden die HaitianerInnen mit einem vollständigen Embargo belegt. Um aus der erzwungenen Isolation auszubrechen, wurde die haitianische Regierung gezwungen, 150 Millionen Goldfrancs als Reparation an Frankreich zu zahlen. Sie entschädigten die Franzosen für das „Verbrechen“, sich als Sklaven erhoben zu haben. Die Reparationszahlungen gingen von 1825 bis 1947. Um 1900 verließen 80% der Staatseinnahmen als Zinstilgung das Land. Es ist kein Wunder, dass kein Geld mehr da war, um eine Infrastruktur aufzubauen.

Die haitianische Regierung ersetzte die Sklaverei durch die Schuldknechtschaft, die der gesamten Nation auferlegt wurde. Diese Situation besteht bis zum heutigen Tag. Eine Reihe unterwürfiger Herrscher verwaltete das Land im Auftrag des Imperialismus und eignete sich dafür einen Teil der Reichtümer des Landes an. Wenn sie nicht unterwürfig genug waren, intervenierte der Imperialismus direkt, so besetzten die USA das gesamte Land von 1915 bis 1934.
Es hat Bewegungen gegen den Imperialismus gegeben. Jean-Bertrand Aristide 1990 wurde mit einem populären Programm gewählt. Im folgenden Jahr kam es zu einem Putsch gegen ihn. Im Jahre 2000 wurde er erneut gewählt und er verdoppelte das Mindesteinkommen auf zwei Dollar pro Tag. 2004 wurde er nach einem weiteren Staatsstreich, der von Frankreich und den USA unterstützt wurde, entführt. Das erinnert sehr stark an das Vorgehen gegen den linken Präsidenten Mel Zelaya in Honduras, der im Juni 2009 mit Hilfe der USA gestürzt und außer Landes gebracht wurde.

Aristide bleibt im Exil. Seit dem Putsch ist eine Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen im Land, deren Truppen das Waffenmonopol besitzen. Es gibt keine haitianische Armee. Wenn jemand fragt: „Warum unternimmt die haitianische Regierung nichts dagegen?“, lautet die Antwort: „Die UN stellen die eigentliche Regierung.“

Jeder weiß, dass sich Haiti in einem Erdbebengebiet befindet. Es stellen sich die Fragen: „Warum befindet sich das Land in einem solchen chaotischen Zustand? Warum entsprechen die Häuser nicht den erdbebensicheren Standards? Warum hat niemand die Infrastruktur verbessert? Warum gab es keine effektiven Notfallpläne?“ Es sind legitime Fragen, die sich die Vereinten Nationen als Repräsentant des Imperialismus auf Haiti gefallen lassen müssen. Die Antwort darauf kann nur lauten, das Leiden der Menschen wird auf der Tagesordnung bleiben, solange sich das Land im Würgegriff des Imperialismus befindet. Die Menschen auf Haiti brauchen echte Hilfe. Sie müssen Teil einer Bewegung werden, die den Imperialismus aus dem Land wirft und sich zu einer sozialistischen Föderation in der Karibik als Teil eines sozialistischen Amerikas zusammenschließt.

Quelle: www.derfunke.de

22. Januar 2010 Posted by | Haiti, Kuba, News, Politik, US-Imperialismus | , , | Hinterlasse einen Kommentar

Lafontaines Rede zum Neujahrempfang der LINKEn in Saarbrücken

Im Interesse der Mehrheit

Dokumentiert. Zur Strategie der Partei Die Linke nach der Bundeswahl 2009. Rede von Oskar Lafontaine beim Neujahrsempfang seiner Partei in Saarbrücken

Wir dokumentieren die Rede, die Oskar Lafontaine, Bundesvorsitzender der Partei Die Linke, am 19. Januar beim Neujahrsempfang seiner Partei in Saarbrücken gehalten hat. Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.
Nach dem Wiedereinzug in den Deutschen Bundestag mit 11,9 Prozent der Stimmen und dem Erfolg bei der saarländischen Landtagswahl ist die Gründungsphase der Partei Die Linke abgeschlossen. Wir sind jetzt nicht nur in sechs ostdeutschen, sondern auch in sechs westdeutschen Landtagen vertreten und haben bei der Bundestagswahl 5155933 Wählerinnen und Wähler für uns gewonnen, mehr als die Grünen und mehr als die CSU.

Mit der Gründung der Partei Die Linke wollten wir vor allem die Außenpolitik und die Wirtschafts- und Sozialpolitik verändern. Diese Veränderungen sind in vollem Gange.

Kernforderungen zeigen Wirkung

Nachdem die Mehrheit der Bevölkerung es ablehnt, Deutschland am Hindukusch zu verteidigen, haben sich in diesen Tagen die beiden christlichen Kirchen erneut gegen den Afghanistankrieg ausgesprochen. Die mit uns konkurrierenden politischen Parteien suchen mit unterschiedlicher Intensität ihre Exitstrategie und führen Rückzugsgefechte. Westerwelle will keine weiteren Kampftruppen und einen Abzug der Bundeswehr in nicht allzu ferner Zukunft. Gabriel will, wie Obama, 2011 mit dem Rückzug der Bundeswehr beginnen. Zu Guttenberg hat erkannt, daß in Afghanistan Krieg ist, und daß dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Ebenso unmöglich sei es, so ließ er verlauten, eine Demokratie nach westlichem Vorbild aufzubauen. Darüber hinaus fordert er, wie einige CSU-Politiker schon vor ihm, einen Weg zu finden, um die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen. Unser Wahlkampfplakat »Raus auf Afghanistan« zeigt Wirkung.

Bei Hartz IV fordert der Paritätische Wohlfahrtsverband eine »Totalrevision«. Der nord­rhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers weiß, daß ein Einzug der Linken in den nord­rhein-westfälischen Landtag ihn den Kopf kosten kann und wirbt für eine »Grundrevision« von Hartz IV. Gabriel greift unsere Forderung auf, langjährig versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern länger Arbeitslosengeld zu zahlen. Mittlerweile gibt es fast jeden Tag neue Vorschläge, um Hartz IV zu verändern. Im Kern geht es darum, die zerstörte Arbeitslosenversicherung wieder herzustellen. An ältere Arbeitslose, die jahrzehntelang in die Sozialversicherung eingezahlt haben, muß das Arbeitslosengeld länger gezahlt werden. Die Zumutbarkeitsklausel, die eine Einladung ist, die Löhne zu drücken, muß verändert werden. Unser Wahlplakat »Hartz IV abwählen« findet immer mehr Anhänger. Die anderen Parteien überarbeiten Hartz IV.

Für den gesetzlichen Mindestlohn werben neben der Partei Die Linke und den Gewerkschaften jetzt auch SPD und Grüne. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler ist ohnehin dafür, bei uns Regeln einzuführen, die in den meisten europäischen Staaten selbstverständlich sind. Leider wurde die Bundestagsmehrheit zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in der letzten Wahlperiode nicht genutzt, weil die SPD nicht aus der Koalitionsdisziplin ausscheren wollte. Es bleibt daher offen, wann dem mehrheitlichen Willen der Bevölkerung endlich im Deutschen Bundestag Rechnung getragen und das verheerende Lohndumping der letzten Jahre beendet wird. Jetzt wird die Praxis des Unternehmens Schlecker kritisiert, das wie viele andere Unternehmen die Deregulierung des Arbeitsmarktes zum Anlaß nimmt, die Löhne zu drücken. Die Brandstifter rufen nach der Feuerwehr. Der gesetzliche Mindestlohn würde den Schaden begrenzen.

Daß die jetzige Rentenformel nicht zu halten ist, wird immer deutlicher. Die Einführung der kapitalgedeckten Rente erweist sich in der Finanzkrise als eine historische Fehlentscheidung. Die Zerstörung der gesetzlichen Rentenversicherung bleibt ein Skandal. Wer heute 1000 Euro verdient, hat nach 45 Arbeitsjahren einen Rentenanspruch von 400 Euro. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne haben mit den sogenannten Rentenreformen millionenfache Altersarmut programmiert. Unser Wahlplakat »Gegen die Rente ab 67« überzeugt jetzt auch die Sozialpolitiker der anderen Parteien. Sie rücken von ihren bisherigen Beschlüssen ab und suchen einen gesichtswahrenden Ausweg. Es versteht sich von selbst, daß Die Linke weiterhin für die Angleichung des Rentenniveaus Ost eintritt.

Demokratische Erneuerung

Neben den vier Kernforderungen der Partei Die Linke zur Bundestagswahl 2009 »Raus aus Afghanistan«, »Hartz IV abwählen«, »Mindestlohn gerade jetzt« und »Gegen die Rente ab 67« hat sich die Wirtschaftspolitik der Linken in der Finanzkrise bewährt. Die Weltwirtschaft wäre zusammengebrochen, wenn nicht alle Industriestaaten im letzten Jahr eine expansive Geld- und Fiskalpolitik gemacht hätten. Mit Verwunderung müssen viele einräumen, daß die neoliberale Ideologie der Deregulierung die Weltwirtschaft in die Krise geführt hat, und daß der von linken Parteien befürwortete Keynesianismus ihren Zusammenbruch verhindert hat. Da aber die Forderung der Linken nach einer Regulierung des Finanzsektors und der Vergesellschaftung des Bankensektors nirgendwo ernsthaft in Angriff genommen wurde, ist mit dem Geld der Zentralbanken nicht die Realwirtschaft gestärkt, sondern die nächste Finanzblase finanziert worden. In bisher einmaliger Weise wurde deutlich, daß die Finanzindustrie die Politik bestimmt und nicht umgekehrt. Der deregulierte Finanzkapitalismus hat die Demokratie ausgehöhlt.

Wir haben an der Deregulierung der Finanzmärkte nicht mitgewirkt und ihre Regulierung seit Jahren gefordert. Auch deshalb begreifen wir uns als demokratische Erneuerungsbewegung. Entweder der Staat kontrolliert und reguliert die Banken, oder die Finanzindustrie kontrolliert und reguliert die Politik.

Wer sich als demokratische Erneuerungsbewegung begreift, muß sagen, was er unter Demokratie versteht. Die Linke beruft sich auf die klassische, dem athenischen Staatsmann Perikles zugeschriebene Definition: »Der Name, mit dem wir unsere politische Ordnung bezeichnen, heißt Demokratie, weil die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden.«

Zu den Ursachen, die zur weltweiten Finanzkrise geführt haben, gehört nicht nur die Deregulierung der Finanzmärkte, sondern auch die von Jahr zu Jahr zunehmende ungleiche Verteilung der Vermögen und Einkommen. Diese Ursache der Finanzkrise wird leider auch von denen übersehen, die wie wir in der Deregulierung eine entscheidende Fehlentwicklung sehen. Der Satz Rosa Luxemburgs: »Ohne Sozialismus keine Demokratie und ohne Demokratie kein Sozialismus« sagt nichts anderes, als daß es ohne eine gerechtere Vermögensverteilung keine Demokratie gibt, weil eine ungerechte Vermögensverteilung zu undemokratischen Machtstrukturen führt. Die Linke wirft als einzige politische Kraft die Frage auf, was wem warum gehört. Sie will eine Gesellschafts- und Rechtsordnung, in der das Eigentum dem zugesprochen wird, der es erarbeitet und geschaffen hat. Deshalb fordern wir bei größeren Produktionsunternehmen, den Zuwachs des Betriebsvermögens denen zuzuschreiben, die es erarbeitet haben. Dieses Belegschaftsvermögen bleibt im Betrieb und sichert den Belegschaften die Rechte der Anteilseigner. Nur so kann die Wirtschaft Schritt für Schritt demokratisiert werden und eine Gesellschaftsordnung entstehen, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen.

Kampagnenjournalismus

Weil Die Linke eine Eigentumsordnung befürwortet, die das Eigentum denen zuspricht, die es geschaffen haben, wird sie von den Nutznießern der jetzigen Eigentumsverteilung, die auf der Enteignung der Belegschaften beruht, bekämpft. Das gilt auch für die privatwirtschaftlichen Medien, in denen, so der Gründungsherausgeber der FAZ Paul Sethe, 200 reiche Leute ihre Meinung verbreiten. Dabei gehen die Medien bei linken Parteien immer nach dem gleichen Muster vor. Sie unterscheiden zwischen angeblichen Realpolitikern und Pragmatikern auf der einen Seite und sogenannten Chaoten, Populisten und Spinnern auf der anderen Seite. Auf diese Weise nehmen sie Einfluß auf die politische Willensbildung und die Personalentscheidungen der linken Parteien. Bei der SPD hat sich so über viele Jahre der sogenannte Reformerflügel durchgesetzt mit dem Ergebnis, daß sich Wählerschaft und Mitgliedschaft halbierten. Agenda 2010 und Kriegsbefürwortung zerstörten den Markenkern der SPD: Das Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Frieden.

Die Grünen, die gerade 30 Jahre alt geworden sind, wurden nach demselben Muster beeinflußt und so zur staatstragenden Partei. Der »Realoflügel« wurde gehätschelt, und die »Chaoten« und »Spinner« wurden immer wieder herunter geschrieben. Wie bei der SPD setzte sich der »Realoflügel« durch. Aus einer Partei, die bei ihrer Gründung soziale Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit, Basisdemokratie und Umweltschutz auf ihre Fahne geschrieben hatte, wurde eine Partei, die die Agenda 2010 und Kriege befürwortet. Warum ereilte die Grünen nicht dasselbe Schicksal wie die SPD? Die Antwort ist einfach. Die Grünen sind zur Partei der Besserverdienenden geworden. Ihre Wählerinnen und Wähler wollen alle mehr Umweltschutz. Sie unterstützen aber mehrheitlich Kriege, die verharmlosend humanitäre Interventionen genannt werden. Der Markenkern der Grünen ist das Eintreten für den Umweltschutz. Soziale Gerechtigkeit, Gewaltfreiheit und Basisdemokratie gehören aus Sicht vieler ihrer Anhänger nicht unbedingt dazu. Deshalb blieb den Grünen das Schicksal der SPD erspart.

Bei der neuen, erst zweieinhalb Jahre alten Partei Die Linke versuchen die Medien dasselbe Spiel. Sie preisen unermüdlich die sogenannten Reformer und Pragmatiker und polemisieren ständig gegen angebliche Populisten, Fundamentalisten, Chaoten und Spinner. Unterstützt werden sie dabei selbstverständlich von den »Reformern« und »Pragmatikern« der anderen Parteien, die immer wieder die Litanei von der Regierungsuntauglichkeit der Partei Die Linke herunterbeten. Würden wir auf diese Propaganda, auf diesen Kampagnenjournalismus hereinfallen, dann erginge es uns wie der SPD. Da wir noch weniger »etabliert« sind, würden sich Wählerschaft und Mitglieder noch schneller halbieren.

Linker Markenkern

Unsere Wahlerfolge verdanken wir dem Markenkern, den wir uns gemeinsam in den letzten Jahren erarbeitet haben. Die Linke ist für ihre Anhängerinnen und Anhänger die Partei des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der wirtschaftlichen Vernunft. Sie stimmt im Bundestag in der Tradition Karl Liebknechts und Willy Brandts gegen Kriegseinsätze. Sie wendet sich im Gegensatz zur Konkurrenz gegen Sozial­abbau, Personalabbau im öffentlichen Dienst und gegen die Privatisierung von Einrichtungen der Daseinsfürsorge. Sie will den Finanzsektor auf seine ursprüngliche Aufgabe beschränken, die Ersparnisse in wirtschaftliche Investitionen zu lenken.

Wenn über die Richtigkeit oder Falschheit einer Strategie geurteilt wird, dann entscheiden nicht Strömungen oder Kommentatoren, sondern die Wählerinnen und Wähler. Der Markenkern der neuen Partei, der in der Bundestagswahl mit den Forderungen »Raus aus Afghanistan«, »Hartz IV abwählen, »Mindestlohn gerade jetzt« und »Gegen die Rente ab 67« beschrieben wurde, begründete den Wahlerfolg der Linken.

Um diese unbestreitbare Tatsache kleinzureden und den Anpassungsdruck zu erhöhen, wird behauptet, Wahlerfolge seien nur dann etwas wert, wenn sie auch zu Regierungsbeteiligungen führen. Einfache Gemüter kleiden diese Überzeugung in die Formel: Opposition ist Mist. Daß auch Regierung Mist sein kann, hat die SPD bei den letzten Wahlen schmerzlich erfahren. Sie enttäuschte in der großen Koalition ihre Anhängerinnen und Anhänger erneut mit Mehrwertsteuererhöhung und Rente mit 67 und wurde dafür abgestraft. Ähnlich erging es unserer Schwesterpartei, der »Rifondazione Comunista« in Italien, die entgegen ihren Wahlversprechen in der Regierung die Kriegsbeteiligung Italiens in Afghanistan und die Kürzung sozialer Leistungen befürwortete. Heute ist sie nicht mehr im Parlament vertreten. Ebenso hat eine der beiden Vorläuferparteien der Linken, die PDS, leider mit Regierungsbeteiligungen nicht die besten Erfahrungen gemacht. Dabei müssen Regierungsbeteiligungen nicht notwendig zu Stimmverlusten bei Wahlen führen. Es gibt viele Beispiele, die das Gegenteil beweisen.

Mitregieren – ja oder nein?

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Ich bin für Regierungsbeteiligungen, wenn wir im Sinne unserer Programmatik die Politik verändern. Wer aber behauptet, nur durch die Regierungsbeteiligung könne eine Partei Politik und Gesellschaft verändern, verkennt die Wirkungsweise des parlamentarischen Regierungssystems. Die Sozialgesetze Bismarcks waren beispielsweise nicht das Ergebnis der Einsicht des Eisernen Kanzlers, sondern sie verdanken ihre Entstehung der Absicht, das Erstarken der SPD zu verhindern. Die umlagenfinanzierte Rente und die Einführung der paritätischen Mitbestimmung wurden von Konrad Adenauer auf den Weg gebracht, um eine Regierungsbildung durch die SPD zu verhindern. Die Grünen haben die Programme der anderen Parteien verändert, ohne an der Regierung beteiligt zu sein. Die Linke hat auch nach dem Urteil ihrer schärfsten Kritiker die Agenda der deutschen Politik in der zurückliegenden Wahlperiode mitbestimmt. Nach unserem Erfolg bei der Bundestagswahl überbieten sich, wie bereits erwähnt, die anderen Parteien damit, Strategien zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zu entwickeln und Verbesserungen in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung vorzuschlagen. Es zeigt sich: Je stärker Die Linke, umso sozialer das Land.

Statt auf diesen Erfolgen aufzubauen und uns auf den Einzug der Partei Die Linke in den nord­rhein-westfälischen Landtag zu konzentrieren, leisten wir uns überflüssige Personalquerelen und genießen die wievielte Auflage der Debatte: Regierungsbeteiligung ja oder nein. Zu den Personalquerelen haben vor allem Gregor Gysi und Klaus Ernst das Notwendige gesagt. Dort, wo Menschen zusammenarbeiten, das gilt für alle Organisationen und Parteien, gibt es Eitelkeiten, Rivalitäten und persönliche Befindlichkeiten. Da nicht alle Akteure einander in tiefer Sympathie und Zuneigung verbunden sind, muß man sich wie im Alltag an Regeln halten, die ein solidarisches Miteinander ermöglichen.

Was die Regierungsbeteiligung angeht, so wird so getan, als gäbe es bei unserer Partei im Osten Regierungswillige und im Westen Fundamentalisten, die eine Regierungsbeteiligung ablehnen. Das ist offenkundig falsch. In Hessen wollte Die Linke Andrea Ypsilanti zur Regierungschefin wählen. Das ist an der SPD gescheitert. Im Saarland wollten wir eine rot-rot-grüne Koalition. Diese scheiterte an den Grünen, die von einem der FDP angehörenden Unternehmer gekauft waren. Und in Hamburg verweigerte nicht Die Linke eine mögliche rot-rot-grüne Regierung, sondern die SPD schloß sie von vornherein aus. Auch die Diskussion in Brandenburg verlief nicht nach dem Muster Regierungsbeteiligung ja oder nein. Vielmehr ging es um den Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst. Ich hätte den Koalitionsvertrag so nicht unterschrieben, weil unsere Haltelinien: Kein weiterer Sozialabbau, kein weiterer Personalabbau im öffentlichen Dienst und keine weitere Privatisierung Voraussetzung einer Regierungsbeteiligung sein müssen. In einer Zeit, in der im vereinten Deutschland weniger öffentlich Beschäftigte arbeiten als in der ehemaligen Westrepublik, halte ich einen weiteren Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst nicht für vertretbar. Hätten wir in Deutschland den gleichen Anteil öffentlicher Beschäftigter an der Gesamtbeschäftigung wie in Schweden, dann gäbe es je nach Rechnung fünf bis sieben Millionen zusätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst.

Auch in Hessen haben wir darüber gestritten, ob Die Linke eine Tolerierungsvereinbarung unterschreiben könne, in der festgelegt war, daß sie keine Mitsprache bei den Bundesratsentscheidungen der hessischen Landesregierung haben soll. Ich war dagegen und hätte eine Tolerierungsvereinbarung, die uns zumuten wollte, eine Regierung zu unterstützen, auf deren Bundesratsentscheidungen wir keinen Einfluß gehabt hätten, nicht mitgetragen.

Auch die bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung in Thüringen von uns erhobene Forderung, daß Die Linke dann den Regierungschef stellen muß, wenn sie in einer Koalition die stärkste Partei ist, wird im Osten und im Westen geteilt. Der Kampagnenjournalismus mit dem Tenor im Osten sitzen die »regierungswilligen Pragmatiker« und im Westen die »regierungsunwilligen Chaoten« ist also eine hahnebüchene Verdrehung der Tatsachen und der Wahrheit. Das beweist auch mein wiederholtes Angebot an die SPD in der letzten Legislaturperiode, einen sozialdemokratischen Kanzler zu wählen, wenn die Bundeswehr aus Afghanistan abgezogen und der gesetzliche Mindestlohn eingeführt würde. Darüber hinaus müsse eine armutsfeste Rente beschlossen und Hartz IV generell überarbeitet werden. Das sind genau die Forderungen, die die SPD jetzt zeitverzögert mehr oder weniger erfüllen wird.

Programmatisches

Wenn es darum geht, das baldige Auseinanderfallen der Linken an die Wand zu malen, behaupten die Medien, wir hätten kein Programm, und wenn wir einmal über ein solches diskutierten, dann sei die Spaltung unvermeidlich. Obwohl auch hier die Tatsachen dagegen sprechen, wird diese Platte immer wieder aufgelegt. Dabei haben wir neben dem Gründungsaufruf ein von allen Mitgliedern durch einen Mitgliederentscheid gebilligtes Programm, das sich leider »Programmatische Eckpunkte« nennt. Das Wort Eckpunkte erweckt den Eindruck des Unfertigen und bietet daher Kritikern die Möglichkeit so zu tun, als sei das gar kein richtiges Programm. Es ist aber eine hervorragende Grundlage unserer politischen Arbeit und braucht den Vergleich mit ähnlichen Programmen anderer Parteien nicht zu scheuen. Richtig ist, daß wir noch kein Grundsatzprogramm verabschieden konnten, weil wir im letzten Jahr das Europawahlprogramm und das Bundestagswahlprogramm vorlegen mußten. Die Grundsatzprogrammkommission hat schon Texte erarbeitet und gute Vorarbeit geleistet, so daß der Partei bald ein Diskussionsentwurf vorgelegt werden kann.

Da sich die Grundsatzprogramme der Parteien in der Formulierung allgemeiner Ziele ähneln, kommt es für Die Linke darauf an, die Programmpunkte herauszuarbeiten, durch die sie sich von anderen Parteien unterscheidet. Dazu gehören nach meiner Meinung folgende Punkte:

1. Wir halten daran fest, daß eine Demokratie eine Gesellschaft ist, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen.

2. Das parlamentarische Regierungssystem muß deshalb durch Elemente direkter Demokratie ergänzt werden. Der Volksentscheid ist das geeignete Mittel.

3. Parteispenden von Unternehmen, Unternehmerverbänden, Banken und Versicherungen müssen gesetzlich verboten werden. Die Millionenspende an die FDP als Belohnung für die Mehrwertsteuerreduktion im Hotelgewerbe spricht Bände.

4. Kein Parlamentsmitglied darf während der Ausübung des Mandats auf der Lohnliste eines Unternehmens oder Wirtschaftsverbandes stehen.

5. Der politische Streik ist für Die Linke, wie in vielen Staaten Europas, ein Mittel um Fehlentscheidungen des Gesetzgebers wie Rente mit 67 oder Hartz IV zu korrigieren.

6. Die Linke nimmt keine Spenden von großen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden und verlangt von ihren Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern während der Ausübung des Mandates nicht auf der Lohnliste von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden zu stehen. Für wichtige politische Fragen und Richtungsentscheidungen sieht die Satzung den Mitgliederentscheid vor.

7. Krieg ist kein Mittel der Politik. Das Völkerrecht ist die Grundlage der Außenpolitik.

8. Die Eigentumsfrage ist die Grundfrage der Demokratie. Das Eigentum soll dem zugesprochen werden, der es geschaffen hat. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) legt fest: »Wer durch Bearbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache.« Die Mitarbeitergesellschaft ist das Unternehmen der Zukunft.

9. Alle Bürgerinnen und Bürger sind vor dem Gesetz gleich. Der Rechtsstaat muß sozial werden. Ein Gerichtsverfahren über einen höheren Streitwert kann die Mehrheit der Bevölkerung wegen der geltenden Gebührenordnung nicht bezahlen. Heute gilt: Das unerlaubte Aufessen eines Brötchens führt zur Kündigung, die Veruntreuung von Milliarden wird mit Millionenabfindungen belohnt.

10. Die sozialen Sicherungssysteme müssen in staatlicher Regie bleiben. Die Beitragsbemessungsgrenzen sind aufzuheben. Generaldirektor und Pförtner müssen von ihrem Einkommen prozentual den gleichen Beitrag zur Sozialversicherung leisten.

11. Das Steuerrecht muß sozial werden. Beispiel: Pendlerpauschale. Wir fordern eine zu versteuernde Direktzahlung an alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um auch die Niedrigverdiener zu unterstützen, die keine Steuern zahlen.

Im Zusammenhang mit den Personaldiskussionen der letzten Wochen wurde auch darüber philosophiert, wer von den Mitgliedern der Parteiführung »unersetzlich« sei. Solche Debatten sind überflüssig. Auch für Die Linke gilt: Niemand ist unersetzlich. Unersetzlich sind nur eine Politik und eine Strategie der Linken, die von immer mehr Wählerinnen und Wählern akzeptiert werden.

Die Linke wird ihre Stellung im Parteiensystem der Bundesrepublik festigen und weiter ausbauen, wenn sie sich klar von den Parteien, die Kriege befürworten und Hartz IV und die Agenda 2010 zu verantworten haben, unterscheidet.

Nach unseren Erfolgen im letzten Jahr müssen wir uns jetzt auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen konzentrieren. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung steht ein zentrales Thema unserer Bundestagswahlkampagne: Wer bezahlt die Folgen der Finanzkrise? CDU und FDP wollen die Wählerinnen und Wähler betrügen, in dem sie die sozialen Kürzungen, die sie vorbereitet haben, vor dieser entscheidenden Wahl verschweigen. Es ist unsere Aufgabe, dieses Spiel zu durchkreuzen. Der Einzug der Linken auch in den nordrhein-westfälischen Landtag würde dazu führen, daß die Lasten der Finanzkrise gerechter verteilt werden. Dafür lohnt es sich zu streiten.

Quelle: jungeWelt 20.01.2010

19. Januar 2010 Posted by | Afghanistan, Antimilitarismus, Bundeswehr, Deutschland, Die LINKE, News, Politik, Sozialismus, Sozialpolitik, SPD | , , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Bock und Gärtner

Bock und Gärtner
19.01.2010
BERLIN
(Eigener Bericht) – Der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) gehört einer studentischen Burschenschaft mit Beziehungen ins Milieu der rechtsextremen NPD an. Dies bestätigen die jüngste Ausgabe der Verbandszeitschrift „Burschenschaftliche Blätter“ sowie neuere Entwicklungen im Dachverband Deutsche Burschenschaft (DB). Zu den Mitgliedern des Verbandes zählen neben Minister Ramsauer zwei Landtagsabgeordnete der NPD. In der gemeinsamen Verbandszeitschrift werden Debatten über angebliche historische Verdienste der NS-Verbrecher Heß und Hitler geführt. Verkehrsminister Ramsauer soll in den kommenden Wochen über Anliegen von NS-Opfern entscheiden, die von seinem Ministerium Restitution für Schäden bei den NS-Deportationen mit der „Deutschen Reichsbahn“ verlangen. Neben dem Regierungsmitglied Ramsauer ist auch der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Hans-Peter Uhl, Mitglied einer Burschenschaft mit NPD-Beziehungen. Zu Uhls Aufgaben gehört die Beobachtung der extremen Rechten.
Im Spektrum des Kabinetts Merkel besetzt Ramsauer weit rechts stehende Positionen. Sein politischer Ziehvater ist Otto Wiesheu (CSU), bis vor kurzem Vorstandsmitglied bei der Deutschen Bahn AG und dort für „politische Beziehungen“ verantwortlich gewesen. Als Aufsicht führender Minister über die DB AG setzt Ramsauer das Wirken von Wiesheu jetzt fort.
NPD-offen

Verkehrsminister Ramsauer wacht nicht nur über die DB AG, sondern ist auch Rechtsnachfolger der „Deutschen Reichsbahn“, die in der NS-Zeit mehr als drei Millionen Menschen in den Tod fuhr. Als juristischer „Reichsbahn“-Erbe soll Ramsauer über das Verlangen ehemaliger NS-Deportierter entscheiden, die die Gründung eines Hilfsfonds für bedürftige Opfer der deutschen Bahndeportationen verlangen.[1] Ramsauer verfügt über einen Etat in Höhe von 26,3 Milliarden Euro – den drittgrößten im Merkel-Kabinett. Bei den Opfer-Forderungen geht es um einen Betrag von mindestens 445 Millionen Euro. Ein Kompromiss mit Ramsauer, dessen Verbandsmitgliedschaft in einer NPD-offenen Organisation bei den internationalen Opferverbänden auf Missbilligung stoßen dürfte, scheint unwahrscheinlich.
Unbeständige Staaten
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) gehört seit Jahrzehnten der Burschenschaft Franco-Bavaria München an, einer von rund 120 Burschenschaften aus Deutschland und Österreich, die in dem Dachverband Deutsche Burschenschaft (DB) zusammenschlossen sind. Die DB ist völkisch ausgerichtet; sie setzt sich laut ihren Verfassungsgrundsätzen „für die freie Entfaltung deutschen Volkstums in enger Verbundenheit aller Teile des deutschen Volkes“ ein – und zwar „unabhängig von staatlichen Grenzen“.[2] Im „Handbuch der Deutschen Burschenschaft“ heißt es dazu weiter: „Unter Deutschland verstehen wir den von Deutschen bewohnten Raum in Mitteleuropa einschließlich der Gebiete, aus denen Deutsche widerrechtlich vertrieben worden sind.“[3] Eine „Orientierung des Vaterlandsbegriffs am Staat“ sei „infolge der Kurzlebigkeit und Unbeständigkeit der Staaten häufiger Umdeutung ausgesetzt“ und deshalb nur von relativer Bedeutung. Was daraus folgt, erläutert das „Handbuch“ in völkerrechtlichen Ausführungen zum „Grenzbestätigungsvertrag“ zwischen Deutschland und Polen vom 14. November 1990. Demnach habe Polen in seinen Westterritorien (den „Oder-Neiße-Gebieten“) lediglich das Recht einer „geduldeten Nutzung“, „die möglicherweise eine Art von Gebietshoheit darstellt“, während zugleich „die territoriale Souveränität über die Ostgebiete weiterhin bei Deutschland“ verbleibe.[4]
„Bomben-Holocaust“

Den Bünden der Deutschen Burschenschaft, die in ihrem „Handbuch“ die Souveränität Polens offen in Frage stellt, gehören neben Verkehrsminister Peter Ramsauer sechs weitere Abgeordnete im Deutschen Reichstag an, darunter Patrick Kurth (FDP, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss), Peter Roehlinger (FDP, Vorstandsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung) sowie Hans-Peter Uhl (CSU, innenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion).[5] Zugleich gehören den DB-Burschenschaften seit Jahren NPD-Politiker an, darunter die sächsischen Landtagsabgeordneten Jürgen Gansel und Arne Schimmer.[6] Gansel wurde vor fünf Jahren bekannt, als er die alliierten Luftangriffe auf Dresden vom Februar 1945 „Bomben-Holocaust“ nannte. Die beiden Flügel der DB existieren seit Jahren, sie vermischen sich regelmäßig bei gemeinsamen Veranstaltungen. CSU-Innenpolitiker Uhl war mehrfach für die gesamte DB aktiv – als prominenter Redner bei Verbandsfeierlichkeiten und als Autor in der Verbandszeitschrift „Burschenschaftliche Blätter“.
Mit der NPD

In den „Burschenschaftlichen Blättern“ hat im vergangenen Sommer eine Grundsatzdebatte über die weitere Entwicklung der DB begonnen. In diesem Rahmen veröffentlicht die Verbandszeitschrift in ihrer jüngsten, kürzlich erschienenen Ausgabe ein Streitgespräch, bei der zwei konservative Burschenschafter mit einem NPD-Mann diskutieren. Es sei gelungen, nicht mehr „über“ die NPD, sondern „mit“ einem „Burschenschafter und NPD-Mitglied“ zu debattieren, urteilt das Blatt. „Wir betrachten diese (…) sachliche und direkte Form der Auseinandersetzung als den richtigen Weg, Befürchtungen und vielleicht auch Missverständnisse aufzuklären“, resümieren die beiden konservativen Diskutanten das Gespräch.[7]
„Hitlers Erfolge“

Darin ging es unter anderem um angebliche historische Verdienste der NS-Verbrecher Rudolf Heß und Adolf Hitler. Weil Heß‘ Schicksal „keinen, der noch einen Sinn für Geschichte hat“, „kaltlassen“ könne, finde er es „ganz natürlich, daß Rudolf Heß“, Hitlers Stellvertreter, „neben vielen Gegnern eben auch einige Bewunderer hat“, erklärt der NPD-Politiker Schimmer (Burschenschaft Dresdensia-Rugia zu Gießen) in dem Gespräch. Auch müsse man „die großen Erfolge“ berücksichtigen, die Hitler „in den ersten sieben Jahren seiner Herrschaft feierte“: „Das Ende der alliierten Rheinlandbesetzung“ und die „unter Hitler erfolgte Vereinigung“ Österreichs sowie der „Sudetengebiete“ „mit dem Deutschen Reich“. Die NPD-Forderung „nach einem differenzierten Blick auf das Dritte Reich“ sei ebenfalls „berechtigt“, urteilt Schimmer.[8] Die Burschenschaftlichen Blätter gehen laut ihrer Eigendarstellung den Mitgliedern der DB „im Rahmen ihrer Mitgliedschaft im Regelabonnement“ zu. Dass die DB-Burschenschafter Uhl und Ramsauer davon ausgenommen wären, ist nicht bekannt.
[1] s. dazu Hoheitliche Morde
[2] Kurzportrait der Deutschen Burschenschaft; http://www.burschenschaft.de
[3], [4] Handbuch der Deutschen Burschenschaft. Ausgabe 2005 zum 190. Jahrestag der Burschenschaft
[5] Dem Deutschen Bundestag gehören derzeit folgende Burschenschafter an: Patrick Kurth (FDP, Burschenschaft Germania Jena), Peter Roehlinger (FDP, Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller Jena), Michael Fuchs (CDU, Burschenschaft Germania Erlangen), Paul Lehrieder (CSU, Burschenschaft Adelphia Würzburg), Joachim Pfeiffer (CDU, Burschenschaft Alemannia Stuttgart), Hans-Peter Uhl (CSU, Burschenschaft Arminia-Rhenania München), Peter Ramsauer (CSU, Burschenschaft Franco-Bavaria München).
[6] Jürgen Gansel und Arne Schimmer gehören der Burschenschaft Dresdensia-Rugia zu Gießen an. Michael Hahn (Vorstandsmitglied des NPD-Landesverbandes Niedersachsen) ist Mitglied der Burschenschaft Rheinfranken Marburg. Rigolf Hennig (NPD-Stadtrat in Verden) gehört der Burschenschaft Rugia Greifswald an.
[7], [8] Fragen und Antworten zur NPD: Eine Diskussion mit Verbandsbruder Arne Schimmer (MdL); http://www.burschenschaftliche-blaetter.de 13.01.2010
Quelle:

19. Januar 2010 Posted by | Burschenschaften, CDU/FDP, Deutschland, Faschismus, News, NPD, Politik, Rechter Rand | , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Empörung über Koch

Der Vorstoß des hessischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Roland Koch für die Einführung einer »Arbeitspflicht« für Hartz-IV-Empfänger hat eine Welle der Empörung ausgelöst. Auch seine Parteifreundin, Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, ging auf Distanz. Die Probleme der Langzeiterwerbslosen »lösen wir nicht, indem wir sie beschimpfen, sondern gezielt helfen«, betonte die Politikerin am Sonntag in Berlin. Es gebe zwar einige »schwarze Schafe«, aber die große Mehrheit der Betroffenen wolle raus aus »Hartz IV«, könne aber nicht arbeiten, »weil sie keine Kinderbetreuung finden, keine Schulbildung haben oder keinen Beruf«. DGB-Chef Michael Sommer sagte der Welt am Sonntag, es sei »unanständig, mit diesem Vorstoß zu suggerieren, daß die Arbeitslosen arbeitsscheu wären«. Ähnlich äußerte sich SPD-Chef Sigmar Gabriel auf einer Klausurtagung der hessischen SPD in Friedewald: Koch habe ein »repressives Bild vom Menschen«. Er kritisierte ferner den Vorschlag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) zur Ausweitung der Zuverdienstmöglichkeiten von Hartz-IV-Empfängern. Offenbar wolle »Rüttgers den Staat zur dauerhaften Lohnsubvention von Armutslöhnen mißbrauchen«.

Der Sprecher des Erwerbslosenforums, Martin Behrsing, erklärte am Sonntag, Koch sei für »brutalstmögliche« Vorschläge und Hetze gegen bestimmte Gruppen bekannt. Er sei ein »höchst gefährlicher Brandstifter von sozialen Unruhen«.

In einem vorab veröffentlichten Interview mit der am heutigen Montag erscheinenden Wirtschaftswoche wird Koch mit den Worten zitiert: »In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht.« Man müsse daher »jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, daß er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertiger Arbeit«. Es könne kein »funktionierendes Arbeitslosenhilfe-System geben, das nicht auch ein Element von Abschreckung enthält«, so Koch weiter.

Derweil mahnte IG-Metall-Chef Berthold Huber in einem Interview mit der Nachrichtenagentur DAPD eine umfassende Reform der Hartz-Arbeitsmarktgesetze an. Dringend nötig sei eine verlängerte Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für diejenigen, die jahrzehntelang in die Sozialkasse einbezahlt und ohne eigenes Verschulden ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Zugleich müsse das Schonvermögen erhöht werden, das Langzeitarbeitslose behalten dürfen, um etwa fürs Alter vorzusorgen. Dagegen sprach sich im Spiegel der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, aus. Die Grundsicherung sei eine staatliche Fürsorgeleistung, die auch Geringverdienende mit ihren Steuern finanzierten. Es sei kein »Ausweis besonderer Gerechtigkeit, wenn künftig die Friseurin den wohlhabenden Eigentümer mehrerer Immobilien mitfinanzieren würde«, so Weise.

Laut BA-Daten werden aber im Durchschnitt nur 0,2 Prozent der Anträge auf Grundsicherung wegen »zu hoher« Vermögenswerte abgelehnt. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, sprach daher in der Thüringer Allgemeinen (Montagausgabe) von einer »reinen Placebo-Diskussion, die von den eigentlichen Problemen bei Hartz IV ablenkt«. Nötig sei vielmehr eine »Totalreform«.

jW-Bericht www.jungewelt.de 18.01.2010

17. Januar 2010 Posted by | CDU/FDP, Deutschland, News, Politik, Sozialpolitik | , , | 1 Kommentar

Honduras: Micheletti „Abgeordneter auf Lebenszeit“

Parlament in Honduras will Putschpräsident vor strafrechtlicher Verfolgung schützen

Empört haben Menschenrechtsgruppen und Aktivisten in Honduras auf einen Beschluß des honduranischen Parlaments reagiert, den seit dem Staatsstreich vom 28. Juni herrschenden De-facto-Präsidenten Roberto Micheletti zum »Abgeordneten auf Lebenszeit« zu erklären und ihm dadurch strafrechtliche Immunität zu garantieren. »Das ist ein Akt, der für ein faschistisches Regime charakteristisch ist«, kritisierte der Präsident der honduranischen Menschenrechtskommission, Andrés Pavón. Die Putschisten versuchten, sich vor den Folgen ihrer Verbrechen zu schützen. Der Beschluß des Kongresses werde Micheletti jedoch nicht vor einem Verfahren beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bewahren, den mehrere Organisationen des zentralamerikanischen Landes angestrengt haben.

Das Parlament in Tegucigalpa hatte am Mittwoch abend (Ortszeit) mit den Stimmen der den Putsch unterstützenden Abgeordneten beschlossen, Micheletti das in der Verfassung nicht vorgesehene Amt eines »Abgeordneten auf Lebenszeit« zu verleihen. Aus Protest gegen die Entscheidung verließen die fünf Abgeordneten der linken Demokratischen Vereinigung (UD) sowie einige Vertreter der Liberalen Partei das Plenum. »Die honduranischen Gesetze kennen so etwas nicht. Die Abgeordneten werden durch das Volk in direkter und geheimer Wahl bestimmt«, unterstrich der UD-Parlamentarier Marvin Ponce.

Der bolivanische Präsident Evo Morales kommentierte den Vorgang wie folgt:

“Ich lese gerade die Überschrift  in den täglichen News über Honduras. Man hat diesem Mann in seinem Land den Titel eines “Member for Life” verliehen. Dabei ist Roberto Micheletti  der “zweite Pinochet” in Lateinamerika”, teilte Morales in einer Rede anlässlich der Buchpräsentation “Evo en la mira, CIA y DEA en Bolivia” durch die argentinische Schriftstellerin Stella Calloni mit.

Augusto José Ramón Pinochet Ugarte war ein chilenischer General und Diktator. Während der Militärdiktatur in Chile unter Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 sind mindestens 35 000 Menschen Opfer systematischer Folterungen geworden. Tausende wurden ermordet.

16. Januar 2010 Posted by | Honduras, International, Lateinamerika, Politik | , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Agenda 2010: Zunehmende Polarisierung


Hintergrund. Agenda 2010 – Im Jahr der Offenbarung

Von Christian Christen

Im kommenden März ist es sieben Jahre her, daß der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Regierungserklärung »Agenda 2010 – zum Frieden und Mut zur Erneuerung« die sozial- und wirtschaftspolitischen Leitlinien seiner zweiten Amtszeit präsentierte. Profitierte die erste Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab 1998 bis 2001 noch von der hohen Exportnachfrage und einem daraus resultierenden Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen der produzierenden Wirtschaft, in deren Folge die ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen stetig sank und die Steuereinnahmen wie Einnahmen der Sozialversicherungen stiegen, änderte sich 2002 die Situation grundlegend. Weitgehend konzeptionslos nahm »Rot-Grün« Ende 2001 den Konjunktureinbruch zur Kenntnis, und es wurde offenkundig, daß ein progressives wirtschafts- und sozialpolitisches Projekt dieser Koalition nie existierte. Statt dessen fabulierte man lange Zeit vom stetigen, inflationsfreien und stabilen Wachstum einer »New Economy«-Ära. Nach dem Platzen der Träume im Finanzcrash um die »Dot com«-Aktien stieg Anfang 2002 die Zahl der registrierten Arbeitslosen schnell auf über vier Millionen, und wie 1998 fehlten mehr als sieben Millionen Arbeitsplätze, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Logischerweise sanken im Abschwung die Einnahmen von Bund, Ländern, Kommunen und der Sozialversicherung, während die Ausgaben und Defizite wuchsen.

Vor diesem Hintergrund mahnte der Kanzler im März 2003 den politischen Aufbruch an und lieferte mit der Agenda 2010 seine Blaupause. Wie seit den 70er Jahren jede Regierung setzte auch »Rot-Grün« zur Überwindung der sozioökonomischen Krise primär auf die Exportwirtschaft, und dazu sollten die Kosten der Arbeit sinken, um in Kombination mit der hohen deutschen Produktivität auf den internationalen Märkten absolute wie relative Wettbewerbserfolge zu erzielen. Diese Strategie basierte stets auf der Reduktion der sogenannten Lohnnebenkosten, da ein frontaler Eingriff in die Tarifautonomie und somit die Primärverteilung zwischen Profit und Lohn politisch unmöglich war. Mit der Regierungserklärung machte sich Schröder nun vollends die These zu eigen, daß das Wirtschaftswachstum zu gering sei, weil der Arbeitsmarkt überreguliert, das Sozialnetz ineffizient und die »Lohnnebenkosten« zu hoch seien. Allenthalben müßten »verkrustete« Strukturen aufgebrochen werden, um Wettbewerb und Wachstumskräfte zu stärken, um Innovationen zu fördern und zukünftige Generationen zu entlasten, um signifikant weniger Arbeitslose und »wetterfeste« Sozialsysteme zu bekommen.

Für die damalige Regierung markierte diese Positionsbestimmung eine doppelte Wende: Zum einen hatte sie die Bundestagswahlen wenige Monate zuvor mit einer anderen Programmatik gewonnen. Die fehlende Legitimation der Agenda-Politik an der Wahlurne erklärt, warum bis zu den vorgezogenen Neuwahlen 2005 alle Reformen im Jargon des Notstands präsentiert und sogar mit breiter Unterstützung der Opposition (Ausnahme PDS) durchgesetzt wurden. Zum anderen manifestierte sich über die Agenda 2010 ein radikaler Kurswechsel in zentralen Politikfeldern der SPD, ohne offen und dezidiert vorher über Sinn und Inhalt zu diskutieren. Von dieser »Top down«-Strategie mit der zugehörigen »Basta-Ideologie« und dem späteren Abnicken der Reformen über alle Parteigremien hinweg hat sich die SPD seither nicht erholt.

Vom Stückwerk zum Konzept

Zumindest bei der SPD sind die Effekte der Agenda 2010 bei den folgenden Wahlen und der Mitgliederentwicklung klar abzulesen. Viel schwieriger ist aber die Bewertung der sozial- und wirtschaftspolitischen Folgen der im Namen dieses Konzepts durchgesetzten Reformen. Im Bereich der sozialen Sicherung bilden dabei die Arbeitsmarktreformen den Kern, die in der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« unter dem damaligen Volkswagen-Vorstandsmitglied Peter Hartz (SPD) formuliert und öffentlich als Hartz I bis IV bekannt wurden. Die von der Bertelsmann Stiftung moderierte und beeinflußte Hartz-Kommission tagte von Februar bis August 2002, so daß Hartz I (u. a. Ausweitung der befristeten Arbeit und der Leiharbeit, Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln, Ausbau der Personal-Serviceagenturen) und Hartz II (Ich-AG, Ausbau der Minijobs, Kombilohnmodelle für Ältere etc.) vor Schröders Regierungserklärung in Kraft getreten sind. Danach gab es Änderungen des Kündigungsschutzes, Hartz III (Umbau der Bundesanstalt der Arbeit und Veränderungen der Zuständigkeiten) und schließlich Hartz IV (Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II).

Ebenfalls vor März 2003 war über die Rentenreform 2001 die (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung und darüber der Systembruch in der Rentenpolitik der Nachkriegszeit durchgesetzt worden. Eingestielt über die später eingesetzte »Rürup-Kommission« setzte »Rot-Grün« dann die Rentenerhöhung 2004 aus, erhöhte die Altersgrenze der Frühverrentung und führte ab 2005 den Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rentenberechnung ein. In Ergänzung zur Politik von 2001 sollten diese Anreize für den späteren Übergang in die Rente erhöht werden, was in der großen Koalition über die »Rente mit 67« institutionell verankert wurde.

Dritter Ansatzpunkt der Agenda 2010 war die Entwicklung der Gesundheitskosten, was die anschließenden Gesundheitsreformen erklärt. Es wurden u.a. das Sterbegeld, die Zahlungen der gesetzlichen Kassen für Brillen und Fahrten zur ambulanten Behandlung gestrichen und der Leistungsabbau mit der Forderung nach mehr Eigenleistung über die Einführung der Praxisgebühr (zehn Euro pro Quartal), der Zahlung von Krankenhausgeld (zehn Euro pro Tag) kombiniert. Ebenso wurde die Zuzahlung für Zahnersatz abgeschafft und der Eigenanteil an den Kosten für Arznei- und Heilmittel erhöht.

Die Gemeindefinanzreform gilt als vierter Bereich der Agenda 2010, wozu die eingesetzte Gemeindefinanzreformkommission im Sommer 2003 ihre Vorschläge präsentierte. Nach dem Einspruch der unionsgeführten Länder im Bundesrat wurden die Gesetze so modifiziert, daß es keine strukturelle Verbesserung der Einnahmesituation der Länder und Kommunen geben konnte. Abgelehnt wurden bei der Gewerbesteuerreform alle Vorschläge zur Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen und Erhöhung der Bemessungsgrundlage. Bei der Finanzierung von Hartz IV (vor allem bei den Kosten der Unterbringungen) stellten Bund und Länder den Kommunen keine signifikante Entlastung in Aussicht. Kontroversen zur Kostenübernahme und über die Zuständigkeit sind deshalb bis heute logische Konsequenz, ebenso blieben die Ursachen des strukturellen Defizits der kommunalen Haushalte bestehen.

Fünfter Bereich der Agenda 2010 sind die Steuerreformen, mit denen zum einen Maßnahmen der Gesetzgebung der SPD-Grünen-Regierung nach 1999 revidiert und »handwerkliche« Fehler ausgeglichen werden sollten. Zum anderen wurde die Entlastung hoher und höchster Einkommen sowie Vermögen und der Unternehmen fortgesetzt. Exemplarisch sank unter »Rot-Grün« der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, und nie gab es einen ernsthaften Versuch, eine revidierte Vermögenssteuer zu konzipieren. Entgegen aller Logik wurden die Zinseinkünfte als eigenständige Einkommensart definiert und mit nur 25 Prozent besteuert.

Erwähnenswert ist auch das naive Vorhaben, Steuerhinterziehung durch die Kapitalflucht nachträglich zu legalisieren, um weitere Kapitalflucht zu verhindern: Wer bis Ende 2004 die aus seinem Fluchtkapital resultierenden Zinseinkünfte nach eigenem Ermessen deklariert und mit 25 Prozent versteuert, konnte ein Verfahren zur Steuerhinterziehung vermeiden. Finanziert wurden die Steuergeschenke primär durch Kürzungen an andere Stelle des Haushaltes und vor allem die Kürzung der Pendlerpauschale und Eigenheimzulage.

Neben diesen fünf Reformprojekten lassen sich die etwa 38 gesetzlichen Maßnahmen zur Liberalisierung und Deregulierung des nationalen Finanzmarktes der Logik der Agenda 2010 zuordnen. Euphorisiert von der Preisinflation an den Geld- und Kapitalmärkten seit Ende der 90er Jahre wollten SPD und Grüne unbedingt den »Finanzplatz Deutschland« fördern, was neben der »Riester- und Rürup-Rente« über das vierte Finanzmarktförderungsgesetz 2002 erfolgte. In Kontinuität der Politik unter Helmut Kohl (CDU) wurden darüber hinaus zahlreiche Regulierungen gelockert, die Konstruktion von und der Handel mit »Finanzinnovationen« erleichtert und die Aufsichtsstrukturen nicht adäquat aus- und aufgebaut. 2003 wurden konkret die Verbriefung von Krediten und der Handel mit diesen strukturierten Wertpapieren steuerlich begünstigt. Die Möglichkeiten für Hedgefonds wurden 2004 verbessert, unter der großen Koalition dann erneut 2005 Produktinnovationen und neue Vertriebswege gefördert und sogar noch 2008 die Private-Equity-Fonds begünstigt. Trotz der jüngsten Finanzkrise sind alle diese Reformen bis zum heutigen Tag in Kraft.

Konzeption aus dem Nichts?

Unzweifelhaft war Gerhard Schröder zu keiner Zeit in der Lage, die Ziele und Instrumente der Agenda 2010 zu formulieren, was aber auch nie von ihm gefordert wurde. Denn die Eckpunkte der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik werden seit Jahrzehnten im engen institutionellen Geflecht zwischen Politik, Wissenschaft, Unternehmen, Lobbygruppen sowie Einzelpersonen und den nachgeschalteten Massenmedien be- und verhandelt. Potentielle »Vetospieler« aus den Reihen der Gewerkschaft und der Wohlfahrtsverbände, der sozialen Bewegung und/oder Wissenschaft werden bei Bedarf bis zu einem gewissen Grad eingebunden. Weitergehende Analysen werden ausgeblendet und/oder stigmatisiert, folglich konzentriert sich der Streit um die »Reformen« stets nur auf die Geschwindigkeit, Tiefe und Instrumente, nie geht es um deren Sinn und Zweck. In dieser Hinsicht ist die Agenda 2010 eben keine Erfindung genialer Parteistrategen oder intellektueller Schwergewichte um die »rot-grüne« Regierung. Sie ist ein Surrogat von Positionen der seit den 70er Jahren geführten Standortdebatten, angereichert mit Versatzstücken der neoliberalen Sozialstaatskritik. Die Eckpunkte der Agenda-Politik mit der entsprechenden Rhetorik finden sich bereits 1998 im Buch des SPD-Wahlkampfstrategen und späteren Kanzleramtsministers Bodo Hombach »Aufbruch – Die Politik der neuen Mitte«. Von Hombach eingespielt wird der zweite Aufguß der Thesen im Schröder-Blair-Papier 1999 verbreitet. Die Rede vom »aktivierenden Sozialstaat« und vom »Fordern und Fördern« gepaart mit einer unreflektierten Idealisierung von Innovationen, Wettbewerb, Marktmechanismen und der Leistungsträger tauchen in allen Debatten zur »Neuen Mitte« sowie zum »Dritten Weg« auf und bestimmten Ende der 90er Jahre die Posi­tionsfindung fast aller sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien in Europa.

Komplementär wurden in der gleichen Phase identische Reformvorschläge für den Bereich der sozialen Sicherung und zur Förderung von mehr Wettbewerb und der »Wirtschaft« in den europäischen Institutionen gebündelt. Kulminationspunkt am Höhepunkt der »New Economy«-Euphorie war die sogenannte Lissabon-Strategie der EU-Kommission, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, innovativsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Um im globalen Konkurrenzkampf zu bestehen, sollten alle strukturellen Hindernisse auf dem Binnenmarkt abgebaut und über das Abkommen von Lissabon (zunächst als Verfassung, dann als einfaches Vertragswerk) mehr Wettbewerb auf allen Ebenen implementiert werden. Ergänzend zu den Maastricht-Kriterien und der autonomen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wurde ein dritter Rahmen konstruiert, der die nationale Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik auf bestimmte Ziele verpflichtete. Folglich mußten die Regierungen zugehörige Reformagenden – wie in Deutschland die Agenda 2010 – formulieren und implementieren.

Probleme bleiben ungelöst

Die Kontroverse um die Effekte der Agenda 2010 rückte nach der Abwahl von SPD und Grünen im Jahr 2005 und mit Beginn der schwersten Finanz-/Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren in den Hintergrund. In Folge der daraus resultierenden massiv steigenden öffentlichen Verschuldung in den kommenden Jahren und der 2011 greifenden »Schuldenbremse« wird aber der Ruf nach radikalen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Reformen lauter werden. Entsprechend wird die in der Politik und den Medien vertretene These revitalisiert, die Agenda 2010 wäre notwendig und sogar erfolgreich gewesen. Dieser Zuspruch hängt in der Regel am Grad der parlamentarischen Beteiligung und ideologischen Begleitung der skizzierten Reformprojekte.

Zugleich folgt die Wertung dem ökonomischen Grundverständnis der Interpreten: Gilt die Verbesserung der Bedingungen für die »Wirtschaft« bzw. Unternehmen, die Reduktion der Kosten der Arbeit und der Staatsquote als entscheidend, um die Beschäftigungskrise der Industriegesellschaft zu lösen und die wachsende Ungleichheit zu minimieren, läßt sich die Agenda 2010 im Detail scharf kritisieren, zugleich jedoch deren Grundrichtung verteidigen. Schließlich hängt die Positionierung daran, wer von welchen Maßnahmen wie profitiert, wer die Lasten trägt und zu welcher Gruppe man selbst gehört. Die Bewertung der Folgen der Agenda 2010 fällt subjektiv unterschiedlich aus. Sie ist auch objektiv im Detail nicht einfach, da sich bestimmte Entwicklungen nicht immer einzelnen Reformen klar zuordnen lassen. Jede überdeterminierte Betrachtung übersieht zudem, daß die Reformen in der Sozialgesetzgebung von »Rot-Grün« vor und nach 2003 ganz in der Tradition des seit den 70er Jahren bekannten Um-/Abbaus des Sozialstaates stehen.

Trotz dieser Einschränkungen bleibt es ein Märchen, den konjunkturellen Aufschwung ab 2004 auf die Agenda 2010 zurückzuführen. Verantwortlich waren erneut der Anstieg der Exporte und Ausrüstungsinvestitionen, was das Problem der Ungleichgewichte der Leistungs- und Zahlungsbilanzen verschärfte und als zentrale Ursache der Finanz-/Wirtschaftskrise ab 2007 zu werten ist. De facto zeigen sich neuerlich die massiven Probleme der seit vier Jahrzehnten bestimmenden Strategie in Deutschland, aufbauend auf bestimmten Schlüsselbranchen (Chemie, Maschinenbau, Automobilindustrie) ständig als Exportweltmeister glänzen zu wollen. Im Hinblick auf die skizzierten Arbeitsmarktreformen konstatierte dagegen die Bundesregierung schon 2005 im Bericht »Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« das komplette Versagen von Hartz I bis III. Allein für Hartz IV fällt die offizielle Interpretation bis heute positiv aus. Allerdings konnte die großspurig behauptete Halbierung der Arbeitslosigkeit im Zyklus 2004–2007 nie erreicht werden, noch wurden neue, gut entlohnte, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in signifikanter Größe geschaffen.

Dagegen hat sich der Anteil der Zeitarbeit von 1994 bis 2006 vervierfacht und umfaßte Mitte 2007 bereits 730000 Personen. Zum selben Zeitpunkt waren 14,6 Prozent aller Arbeitsverträge in Deutschland zeitlich befristet. Gestiegen sind noch die Teilzeitarbeitsplätze über die Kombilohnmodelle und Aufstockungsmöglichkeiten von Arbeitslosengeld-II-Beziehern, was ab 2005 der flächendeckenden Subvention für Löhne bis 800 Euro gleichkommt. Bis Ende 2007 waren rund 4,9 Millionen Personen in diesen Minijobs beschäftigt, und so wurde der Niedriglohnsektor (umfaßt heute rund 22 Prozent aller Beschäftigten) in Deutschland in wenigen Jahren annähernd so groß wie in den USA.

Der Rückgang der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosigkeit seit Ende 2003 erklärt sich also erstens aus dem Anstieg der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Zweitens entstanden im Konjunkturaufschwung wie immer auch neue Arbeitsplätze, drittens gab es Modifikationen in der Arbeitslosenstatistik. Es wird also ein Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit nach 2004 suggeriert, für den es keine belastbaren Zahlen gibt. Die offizielle Zahl aller Leistungsbezieher von ALG I, ALG II und von Personen in den geförderten Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit blieb über den Zyklus hinweg relativ konstant bei rund sieben Millionen. Die Reformen am Arbeitsmarkt veränderten jedoch direkt das gesamte Lohngefüge so stark, daß die Reallöhne im mäßigen Konjunkturaufschwung stagnierten und sogar sanken – eine einmalige Situation in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die binnenwirtschaftlichen Impulse für Wachstum und Beschäftigung fallen schon seit Jahren in Deutschland viel zu gering aus, stets muß deshalb die ausländische Nachfrage für eine Konjunkturbelebung herhalten. Im Ergebnis werden die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt an das Ausland delegiert, die sich ihrerseits verschulden und/oder die gleiche Politik wie mit der Agenda 2010 einführen müssen.

Auch ist in den letzten sieben Jahren die soziale Polarisierung über die Steuerreformen, Gemeinde­finanzreformen, die Reformen im Gesundheitsbereich sowie der Alterssicherung nicht minimiert worden, im Gegenteil. Die generelle Entwicklung läßt sich in drei Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung sogar selbst ablesen und ist prinzipiell sehr gut dokumentiert. Ebenso wird in unzähligen Dokumenten der OECD bescheinigt, daß Deutschland schon 2003 am unteren Ende der Skala der effektiven Besteuerung hoher und höchster Einkommen und Vermögen sowie Profite und bei den Abgaben rangiert. In dieser Hinsicht haben die skizzierten Reformen lediglich nur die strukturellen Einnahmeausfälle der öffentlichen Haushalte vergrößert, was dann angeführt wird, um die Ausgaben zurückzufahren und die Haushalte zu konsolidieren.

Seit Jahren wird gleichfalls von der OECD darauf hingewiesen, daß in keinem Industrieland die Korrelation zwischen dem Grad der Bildung/Ausbildung und der sozialen Herkunft so eng ist wie in Deutschland. Schließlich wird mittlerweile offiziell zur Kenntnis genommen, daß durch alle bisherigen Rentenreformen das Risiko der Altersarmut selbst für weite Teile der Mittelschicht stark gestiegen ist. Schließlich hat sich trotz aller Gesundheitsreformen an der Fehlallokation, der Unterversorgung und den vermachteten Strukturen nichts geändert. Das Preiskartell der Pharmaindustrie ist ungebrochen und die ineffiziente Doppelstruktur von gesetzlichen und privaten Kassen intakt. Die Eigenleistungen der Versicherten haben, wie deren Beiträge für die Altersvorsorge, deren Realeinkommen reduziert, und trotz wachsender Zuflüsse in den Gesundheitssektor hat sich eine Zweiklassenmedizin und die Rationierung medizinischer Leistungen etabliert.

Agenda 2020?

Seit Schröders Agenda-Rede im März 2003 sind die Grundprobleme – Massenarbeitslosigkeit, soziale Polarisierung und ökonomische Wachstumsschwäche – ungelöst. Mit den skizzierten Reformen konnten die Probleme ohnehin nie gelöst werden, jedoch wurden institutionelle und sozialrechtliche Fakten geschaffen und Weichen gestellt. Nach der großen Koalition setzt nun die CDU/CSU-FDP-Regierung problemlos dort an, und je nachdem, wie sich die Situation in diesem Jahr entwickelt, läßt sich der neoliberale Umbau nach kurzer Unterbrechung durch die jüngste Finanz-/Wirtschaftskrise weiter forcieren. Brachiale Veränderungen bei der sozialen Sicherung sind unnötig, im besten Fall für »Schwarz-Gelb« reicht das Warten und die Fortsetzung der bisherigen Politik. Beispielsweise spricht angesichts der bereits vollzogenen Abwicklung jeder sinnvollen Arbeitsmarktpolitik und dem Umbau der Bundesagentur für Arbeit nur noch wenig gegen die weitgehende Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Konsequent in der Logik der Agenda 2010 gedacht sind auch alle Forderungen zur einkommensunabhängigen Gesundheitsprämie (Kopfpauschale), zur kapitalgedeckten Komponente in der Pflegeversicherung und nach weiterer Privatisierung der Alterssicherung.

Selbstredend lassen sich diese Positionen angesichts der noch nicht absehbaren Folgen der jüngsten Finanz-/Wirtschaftskrise und der konkreten Entwicklungen der kommenden Jahre noch nicht deutlich artikulieren. Da aber die soziale Sicherung für große Teile der Bevölkerung bereits auf das Niveau einer Grundsicherung reduziert worden ist und die Langzeitfolgen der Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Polarisierung der Einkommen und Rentenreformen die Gesellschaft bisher nicht in voller Wucht erfaßt haben, wird sich der Widerstand gegen den weiteren Sozialabbau ohnehin in Grenzen halten.

In dieser Hinsicht war die Agenda 2010 ein Erfolg: Sie hat nicht nur dazu beigetragen, die ökonomischen Grundlagen der sozialen Sicherung für Wachstum und Entwicklung sowie eine progressive Nutzung des Reichtums zu unterminieren, sondern die Legitimation des demokratischen Sozialstaats stark beschädigt.

Darüber hinaus fehlt es auch sieben Jahre nach der Regierungserklärung zur Agenda 2010 im linken politischen Lager an der Formulierung einer stringenten, alternativen Struktur- und Industriepolitik und der dazugehörigen Beschäftigungs-, Steuer-, Sozial- und Finanzpolitik. Schließlich fehlt es bei aller punktuellen Kritik und vereinzelten Widerständen in der Breite auch (noch) an den Personen in- und außerhalb der Parlamente, die eine solchermaßen progressive und zugleich radikale Reformagenda gegen massive Anfeindungen seitens des Staatsapparates, weiten Teilen des Kapitals und einigen Medien überzeugt formulieren und vor allem auch verteidigen würden.

Christian Christen ist Mitglied der Memorandum-Gruppe und des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC-Deutschland

Quelle: jungewelt 06.01.2010  www.jungewelt.de

6. Januar 2010 Posted by | CDU/FDP, Deutschland, Grüne, Grüne/Bündnis 90, News, Politik, Sozialpolitik, SPD | , , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Eine kritische Bilanz zu Hartz IV

Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2005


Die sog. Hartz-Gesetze, vor allem das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene vierte als ihr unrühmlicher Höhepunkt, sind Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, das die ganze Architektur und die innere Konstruktionslogik des bisherigen Sozialstaates in Frage stellt. Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das Gesicht der Bundesrepublik seither prägt. Die rot-grüne, durch eine Mehrheit der damaligen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP im Bundesrat und die Kompromissbereitschaft der Regierungsparteien radikalisierte Arbeitsmarktreform hat unser Land so tiefgreifend verändert, dass es kaum übertrieben erscheint, von der „Hartz-IV-Republik“ oder der „Hartz-IV-Gesellschaft“ zu sprechen. Von Christoph Butterwegge

Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt waren einschneidende Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht verbunden. Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet.

Bundeskanzler Schröder erklärte am 14. März 2003 in seiner berühmt-berüchtigten Rede zur Agenda 2010, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: „Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“ Was wegen des Zwittercharakters der Arbeitslosenhilfe (Alhi) – sie war durch Beitragszahlungen begründet und von der früheren Höhe des Arbeitsentgelts ihres Beziehers abhängig, jedoch steuerfinanziert und bedürftigkeitsgeprüft – hätte sinnvoll sein können, um eine Politik der „Verschiebebahnhöfe“ zwischen beiden Hilfesystemen zu beseitigen, führte allerdings nicht zu einer Grundsicherung auf höherem Niveau, sondern einer Schlechterstellung von sehr vielen Menschen sowie einer gleichfalls problematischen Aufspaltung der Sozialhilfeempfänger/innen in erwerbsfähige, die Arbeitslosengeld (Alg) II beziehen, und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten. Daraus wiederum erwuchsen neue Gefahren einer Stigmatisierung nach dem Grad der Nützlichkeit bzw. nach der ökonomischen Verwertbarkeit dieser Personen.

Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. Mit dem, was gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiativen als „Verfolgungsbetreuung“ charakterisieren, wurde der Kontrolldruck auf (potenzielle) Leistungsbezieher/innen spürbar erhöht sowie eine Verletzung der Privat- und Intimsphäre durch „Sozialdetektive“ vorprogrammiert. Hartz IV hat also sehr viel mehr bewirkt, als gesetzlich zu verankern, dass Millionen frühere und potenzielle Alhi-Empfänger/innen seither weniger Geld erhalten.

Ausweitung des Niedriglohnsektors

Durch die Umsetzung des im Vermittlungsausschuss von Bundestag und -rat noch weiter radikalisierten Konzepts der sog. Hartz-Kommission (Ausweitung nicht nur „haushaltsnaher“ Mini-Jobs sowie der Leih- bzw. Zeitarbeit) hat der Niedriglohnsektor enorm an Bedeutung gewonnen. Den armen Erwerbslosen, die das Fehlen von oder die unzureichende Höhe der Entgeltersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwirft, treten massenhaft erwerbstätige Arme zur Seite. Längst reichen selbst viele Vollzeitarbeitsverhältnisse (besonders in Ostdeutschland) nicht mehr aus, um „eine Familie zu ernähren“, sodass man einen oder mehrere Nebenjobs übernimmt und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (schwarz) weitergearbeitet wird.

Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Dass heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Betriebsrät(inn)en in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat.

Da trotz des irreführenden Namens „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ auch immer mehr (voll) Erwerbstätige das Alg II als sog. Aufstocker, d.h. im Sinne eines „Kombilohns“ in Anspruch nahmen bzw. nehmen mussten, um leben zu können, etablierte Hartz IV ein Anreizystem zur Senkung des Lohnniveaus durch die Kapitalseite. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt die Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Kardinalproblems beizutragen. Mittlerweile hat die Bundesrepublik unter den entwickelten Industriestaaten den breitesten Niedriglohnkorridor nach den USA. Trotz des im Wesentlichen konjunkturell bedingten Rückgangs der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit leiden heute in der Bundesrepublik wahrscheinlich mehr Menschen unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen als vor dem 1. Januar 2005.

Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland

Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Stress und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. Auf dem Höhepunkt des zurückliegenden Konjunkturaufschwungs, im März 2007, lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fast 1,929 Mio. Kinder unter 15 Jahren (von knapp 11,5 Mio. dieser Altersgruppe insgesamt) in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt werden. Rechnet man die übrigen Betroffenen – Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die gar keine Transferleistungen beantragen können – hinzu und berücksichtigt außerdem die sog. Dunkelziffer – d.h. die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen – , leben etwa 2,8 Millionen Kinder, d.h. mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.

Verschärft wird das Problem durch erhebliche regionale Disparitäten (Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle). So lebten in Görlitz 44,1 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten, während es im ausgesprochen wohlhabenden bayerischen Landkreis Starnberg nur 3,9 Prozent waren. Wie die traurige Rekordhöhe der Kinderarmut, welche auf dem Höhepunkt nach dem Inkrafttreten der größten Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 beweist, gehören Heranwachsende zu den Hauptverlierer(inne)n von Hartz IV.

Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, dass Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. Auf das Leben der Kinder, die zur „unteren Schicht“ gehören, wirkte sich das Gesetzespaket wegen der katastrophalen Lage des Arbeitsmarktes in den östlichen Bundesländern besonders verheerend aus. Die finanzielle Lage von Familien mit Alhi-Empfänger(inne)n verschlechterte sich durch den Übergang zum Alg II, was erhebliche materielle Einschränkungen für betroffene Kinder einschloss. Betroffen sind auch diejenigen Kinder, deren Väter aufgrund ihres gegenüber der Arbeitslosenhilfe niedrigeren Arbeitslosengeldes II keinen oder weniger Unterhalt zahlen (können), denn die Unterhaltsvorschusskassen bei den Jugendämtern treten nur maximal 6 Jahre lang und auch nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes ein.

Nicht nur die materielle Situation, sondern auch die Position von Frauen und (alleinerziehenden) Müttern auf dem Arbeitsmarkt hat sich verschlechtert. Die sog. Mini- und Midi-Jobs übernehmen größtenteils Frauen. „Haushaltsnahe Dienstleistungen“, die sie erbringen sollen, heißt im Wesentlichen, dass ihnen Besserverdienende, denen dafür nach einem vorübergehenden Wegfall des sog. Dienstmädchenprivilegs nun auch wieder Steuervergünstigungen eingeräumt werden, geringe (Zu-)Verdienstmöglichkeiten als Reinigungskraft oder Haushälterin bieten. Ist die „Mini-Jobberin“ mit einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verheiratet, braucht sie wegen der kostenfreien Familienmitversicherung keine Krankenkassenbeiträge zu entrichten. Um die vollen Leistungen der Rentenversicherung in Anspruch nehmen zu können, muss eine (Putz-)Frau jedoch ergänzende Beiträge zahlen. Selbst dann lässt sich Altersarmut kaum vermeiden. Gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zwischen den Altersrenten von Männern und Frauen weiter zu Lasten der Letzteren.

Eine soziale Grundsicherung, wie sie das Arbeitslosengeld II laut Gesetzestext sein möchte, muss vor Armut schützen, damit sie diesen Namen verdient. Das kann man in Anbetracht der äußerst niedrigen Regelleistungen beim Alg II allerdings nicht behaupten. Mehr qualifizierte Arbeitsplätze mit ausreichend hohen Löhnen bzw. Gehältern, ein dichtes Netz öffentlicher (Ganztags-) Kinderbetreuungseinrichtungen und Gemeinschaftsschulen bilden den Schlüssel zur Bekämpfung der Kinderarmut.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009) erschienen.

Quelle: www.nachdenkseiten.de

05.01.2010

6. Januar 2010 Posted by | CDU/FDP, Deutschland, Grüne/Bündnis 90, News, Politik, Sozialpolitik, SPD | , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar