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Linkes Blog aus Ostfriesland

Henning Mankell: »Ich war dort«

»Ich war dort«    junge Welt-Bericht

Augenzeugenbericht. Wie der schwedische Schriftsteller Henning Mankell den israelischen Angriff auf die Gaza-Hilfsflotte erlebt hat – und wie ihn Journalisten in Berlin befragen

junge Welt dokumentiert die Pressekonferenz des schwedischen Schriftstellers Henning Mankell am Donnerstag nachmittag im Großen Saal der Berliner Volksbühne, in dem sich »eine knappe Hundertschaft Journalisten und Kameraleute versammelt« (Spiegel online) hatte. Bild (Freitagausgabe) erklärte den Bestsellerautor ob seiner Ausführungen (»steigert sich immer mehr in seine absurde Wut auf Israel hinein«) zum »Verlierer des Tages«. Die Süddeutsche Zeitung meldete, Mankell habe »mit einem Furor über den grauenhaften Morgen im Mittelmeer« gesprochen. Der Autor verdiene viele Millionen mit Krimis und leiste sich den Luxus, ein linker Moralist zu sein.

Ich bin nicht verpflichtet, diese Stellungnahme abzugeben. Aber wie der Zufall es will, bin ich heute in Berlin und ich wollte, wenn möglich, einige Journalisten treffen. Denn ich hatte schon gesehen, daß viel veröffentlicht worden war, was aber vielleicht nicht ganz richtig ist. Ich habe etwas, das Sie nicht haben: Ich war dort.

Ich war an Bord eines der Schiffe, die mitten in der Nacht angegriffen wurden. Ich habe es gesehen. Ich habe es gehört. Ich habe es miterlebt. Ich habe nicht alles gesehen. Es gibt vieles, worüber ich nicht reden kann, weil ich es nicht gesehen habe. Aber von den Dingen, die ich gesehen, gehört und erlebt habe, kann ich Zeugnis ablegen.

Und ich kann ihnen eins versprechen: Ich werde ihnen nichts erzählen, was nicht wahr ist. Ich beteilige mich seit fast 40 Jahren an der politischen Diskussion in Schweden und der Welt. Ich habe mein Herz niemals an irgendeine Lüge gehängt. Ich glaube nicht, daß die Lüge ein Mittel der Demokratie ist. Deswegen ziehe ich es vor, zu sagen »Ich weiß es nicht«, »Ich kann das nicht beantworten« oder »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, bevor ich ihnen eine halbwahre Antwort gebe. Das werde ich nicht tun. (…)

Wie Sie alle wissen, ist die Idee des Konvois aus dem Krieg gegen Gaza heraus entstanden, der die Palästinenser im Gazastreifen hinter der Blockade wie hinter einer Mauer völlig isolierte. Vor ungefähr einem Jahr entstand der Wunsch, diese Blockade gegen die Palästinenser in einem Akt der Solidarität und der humanitären Hilfe zu brechen, um deutlich zu machen, daß sie unrechtmäßig und unmenschlich ist. Das konnte nur auf dem Seeweg gelingen. Deswegen nannten wir die Kampagne »Ein Schiff nach Gaza«.

Ich war an Bord eines Schiffes namens »Sophia«. Es war ein Frachtschiff, ein kleines Fahrzeug. Ich war nicht auf dem größeren Passagierschiff, deswegen kann ich nicht bezeugen, was dort passiert ist. Aber von der kleinen »Sophie« aus sahen wir, was dort in etwa einem Kilometer Entfernung geschah. Ich war auf der »Sophia«, weil sie sozusagen ein schwedisches Schiff war. Es ist mit schwedischem Geld finanziert worden. Viele haben kleine Summen gespendet, um das möglich zu machen. Es hatte Zement, Baumate­rial und Fertighäuser geladen.

Wir waren etwa 25 Personen an Bord. Die Besatzung bestand aus Griechen, außerdem aus mir, einem schwedischen Arzt, einem schwedischen Abgeordneten der Grünen und anderen. Wir befanden uns in internationalen Gewässern und waren auf dem Weg, die Blockade zu brechen. Wir gingen aber davon aus, daß wir noch etwa zwei Stunden weiterfahren mußten, bevor wir uns den von Israel beanspruchten Gewässern nähern würden.

Um vier Uhr morgens wurde ich von jemandem geweckt, der mir mitteilte, daß die »Mavi Marmara« angegriffen wurde. Wir konnten die Scheinwerfer von Hubschraubern sehen und Gewehrfeuer hören. Wir konnten aber nicht herausfinden, was genau geschah, weil die Kommunikation lahmgelegt war. Wir konnten unsere Telefone nicht benutzen und uns auch sonst nicht verständigen. Das hatte das israelische Militär besorgt. Erst zwei Tage später, als ich an Bord des Lufthansa-Flugzeugs ging, erfuhr ich, daß zehn Menschen getötet worden waren. Das wußte ich vorher nicht.

Wir stellten also fest, daß sich das israelische Militär entschieden hatte, den Konvoi in internationalen Gewässern zu attackieren. Um 4.35 Uhr griffen sie dann unser Frachtschiff an. Wir hatten uns entschieden, keinerlei Widerstand zu leisten. Wir standen auf der Brücke. Dann enterten die Kommandosoldaten das Schiff. Sie trugen Maschinenpistolen und waren alle maskiert. Ich weiß nicht, wie viele es waren, aber es waren auch Frauen darunter. Sie kamen hoch auf die Brücke, waren sehr aggressiv und riefen: »Ihr müßt hier runter!«

Wir hatten auch ältere Leute unter uns, die vielleicht nicht so schnell zu Fuß waren. Einem von ihnen wurde mit einem Elektroschocker in den Arm geschossen und er ging vor Schmerzen zu Boden. Ein anderer Mann wurde von einem Gummigeschoß getroffen und ging ebenfalls zu Boden. Dann wurden wir nach unten an Deck gebracht und mußten uns zusammen hinsetzen. Die Soldaten durchsuchten das Schiff.

Nach einer gewissen Zeit – ich kann nicht sagen, wieviel – kamen sie zurück und einer sagte auf Englisch: »Wir haben Waffen an Bord gefunden!« Wir fragten: »Was für Waffen? Es gibt keine Waffen an Bord dieses Schiffes.« Dann zeigte er uns einen Naßrasierer. Meinen Rasierer. Dann zeigte er ein kleines Kartonmesser aus der Küche, das dem ägyptischen Koch dazu diente, Vorratskartons zu öffnen. »Ihr werdet jetzt hier sitzen bleiben, und wir bringen das Schiff nach Israel.«

Das geschah in internationalen Gewässern und das heißt, daß die Soldaten wie Piraten gehandelt haben. Das war ein Akt der Seepiraterie. Und in dem Moment, als sie das Schiff übernahmen, wurden wir nach internationalem Recht praktisch entführt. Wir saßen elf Stunden lang am selben Ort. Ohne Verpflegung, wir hatten nur Wasser und trockenes Brot in der Sonne. Dann wurden wir irgendwo hingebracht, ich weiß immer noch nicht, wie der Hafen heißt.

Als wir an Land gebracht wurden, geschah etwas, das ich nie vergessen werde. Wir wurden einer nach dem anderen in einem wahren Spießrutenlauf in das vorgesehene Gefängnis geführt. Zu beiden Seiten standen Soldaten. Überall waren Kameras, aber nur vom Militär, soweit ich sehen konnte. Alles illegal. Das habe ich gesehen, das ist mit mir geschehen.

Außerdem kann ich bezeugen, daß die Soldaten sich niemals ausgewiesen haben. Sie haben uns die ganze Zeit gefilmt, obwohl die Genfer Konvention vorschreibt, daß Zivilisten nicht so behandelt werden dürfen. Und ich kann bezeugen, daß sie alles gestohlen haben, was ich hatte. Sie haben meine Kamera gestohlen, mein Telefon, mein Geld, meine Kreditkarte, meine Kleidung, alles. Und sie haben auch die Computer und Telefone der anderen gestohlen.

Ein Polizist sprach mich an – jedenfalls nehme ich an, daß er einer war, er trug Zivilkleidung: »Entweder schieben wir Sie ab oder Sie kommen ins Gefängnis.« Ich fragte: »Wessen werde ich denn beschuldigt?« Er sagte: »Sie sind illegal nach Israel eingereist.« Ich antwortete: »Wovon reden Sie? Ich wurde entführt und gezwungen, herzukommen.« Danach weigerte er sich, weiter mit mir zu reden.

Ich wurde in ein Abschiebegefängnis gebracht. Wir waren zu acht in einem sehr kleinen Raum. Wir bekamen etwas zu essen und etwas Wasser. Wir wurden nicht geschlagen. Wir warteten darauf, Kontakt zu unserer Botschaft aufnehmen zu können. Ich war mit dem schwedischen Abgeordneten zusammen, dem es schließlich gelang, Kontakt zur Botschaft herzustellen. Wir blieben eine Nacht in dem Gefängnis und wurden am nächsten Tag zum Lufthansa-Flug gebracht. Ich bin ohne Socken an Bord gegangen, weil sie auch meine Socken gestohlen hatten. Eine sehr interessante Situation, muß ich zugeben. In der Business Class war aber eine sehr nette Dame, die mir ein Paar Socken gab. Wenigstens konnte ich Israel mit Socken an den Füßen verlassen. (…)

Wenn diese Leute uns wirklich aufhalten hätten wollen, hätten sie es dort tun sollen, wo die Territorialgewässer von Israel und Palästina beginnen. Und sie hätten es sehr leicht tun können, indem sie Ruder und Propeller des Schiffes beschädigen. Dann hätten wir nichts tun können und sie hätten uns hinschleppen können, wo sie wollen. Aber sie zogen es vor, Kommandotruppen zu schicken, um uns anzugreifen. Das war die Entscheidung Israels.

Ich kann Ihnen nicht erklären, was auf dem Schiff passiert ist, auf dem die zehn Menschen starben. Aber ich kann Ihnen sagen, daß die zehn Toten keine Israelis sind. Sie sind Menschen, die mit Gütern für die Palästinenser in Gaza kamen.

Jetzt nehme ich gerne Ihre Fragen entgegen.

Frage von Julia Niedhammer (RBB): Es gibt im Moment viel Kritik an Israel. Manchmal verwandelt sich diese Kritik schon in Haß. Was denken Sie darüber?

Ich glaube nicht an Haß. Ich glaube nicht, daß Haß ein gutes politisches Werkzeug ist, um die Welt zu verbessern. In dieser Situation denke ich, daß sich die Israelis durch die dummen und gefährlichen Entscheidungen, die sie getroffen haben, selbst in diese Ecke manövriert haben. Sie hätten sich anders entscheiden sollen. Sie hätten sich anders entscheiden können.

Wir haben Fernsehbilder von den Kommandosoldaten gesehen, die sich auf das große Schiff abseilten und zusammengeschlagen wurden. Also, sagen die Soldaten, mußten wir uns verteidigen. Die Frage ist: Haben die Passagiere versucht, zu den Hubschraubern hochzuklettern oder sind die Soldaten heruntergekommen? In internationalen Gewässern. Die Frage beantwortet sich selbst: Wer hat wen angegriffen? Und ich sage Ihnen eins: Wenn ich auf meinem Boot in internationalen Gewässern angegriffen würde, würde ich wenigstens versuchen, mich zu verteidigen.

Sie sagen, es gibt viel Haß. Das ist vielleicht verständlich, aber bedauerlich. Ich glaube nicht an diesen Haß. Aber vielleicht kann er die Israelis dazu zwingen, erstens diese Blockade zu beenden und zweitens einen Dialog zu beginnen, um die Probleme zu lösen, die wir haben.

Lassen Sie es mich gleich sagen: Ich bin sehr kritisch gegenüber den Handlungen der Hamas in Gaza. Ich bin kein unkritischer Freund der Hamas. Aber wir müssen mit ihr sprechen. Wir müssen den Dialog führen, um diese unerträgliche Lage zu beenden. Es tut mir leid, daß es den Haß gibt, aber ich denke, die Israelis müssen vor ihrer eigenen Tür kehren. Wir haben mit dem Haß nicht angefangen.

Frage von David Nauer (Tagesanzeiger, Schweiz): Ihr Schriftstellerkollege Leon de Winter sagte, die Passagiere auf den Schiffen hätten Lieder gesungen wie »Tod den Juden«, als sie in Zypern ausliefen. Haben Sie davon etwas mitbekommen?

Hand aufs Herz: Nein. Auf der ganzen Reise habe ich keine vergleichbaren Ausdrücke gehört. Nie. Ich kann für das Schiff sprechen, auf dem ich war. Und ich habe es auch nicht aus der Ferne gehört. Wenn das gesungen worden wäre, wäre das fürchterlich falsch gewesen. Ich wäre sehr wütend, wenn das wahr wäre. Denn das verließe den gemeinsamen Boden unserer humanitären Mission.

Frage eines Freelancers: Wie würden Sie Ihre politische Haltung gegenüber Israel vor diesen Geschehnissen beschreiben? Würden Sie sich vor dem Hintergrund Ihrer politischen Sozialisation als Antizionisten bezeichnen?

Ich wurde in demselben Jahr geboren, in dem Israel gegründet wurde: 1948. Ich habe mein ganzes Leben mit diesem Konflikt gelebt. Und ich will nicht damit sterben. Ich hoffe, daß ich noch eine Lösung dafür erlebe. Was ist die Lösung dieses Konflikts? Ganz ehrlich: Wir können eins sagen – die heutige Lage ist unerträglich, sie ist nicht die Lösung. Dann müssen wir also diskutieren, ob sie überhaupt in zwei Staaten liegt oder ob wir nach einer südafrikanischen Lösung suchen müssen. Ich weiß es nicht.

Es ist die Aufgabe der Israelis und der Palästinenser, sie zu finden, mit unserer Unterstützung, in einem Dialog, nicht in einem Krieg. Ich muß glauben, daß es eine Lösung gibt. Ich glaube, daß wir durch den demokratischen Dialog eine Lösung für jedes Problem auf der Welt finden können. Natürlich bin ich kein Antisemit, auch wenn manche mich so beleidigen. Aber ich bin gegen die heutige Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Dagegen bin ich, denn das ist eine Art von Apartheidpolitik. Ich war gegen die Apartheid in Südafrika, und ich bin heute gegen die Apartheid.

Frage von Janita Hämäläinen (Spiegel TV): Sie haben gesagt, daß Sie weit weg waren von dem Ausbruch der Gewalt. Aber inzwischen müssen Sie doch auch das Videomaterial vom Deck der »Marmara« gesehen haben, auf dem wir Aktivisten israelische Soldaten angreifen sehen. Was ist Ihre Reaktion auf dieses Material? Würden Sie sagen, daß es naiv war, an der Aktion teilzunehmen?

Ich kann Ihnen versichern, daß ich nicht naiv bin. Wenn man seit 25, 30 Jahren in Afrika lebt, dann macht einen das jedenfalls nicht naiv. Zu den anderen Frage: Ich bin vor zwei Tagen spät in der Nacht zurückgekehrt und habe seitdem fast Tag und Nacht mit Ihren Kollegen gesprochen. Ich habe nicht sehr viel Videomaterial gesehen. Ich habe ein paar Minuten gesehen.

Darauf sehe ich keine Personen, die Seile hoch zu den Soldaten in den Hubschraubern klettern. Ich sehe Soldaten mit Maschinenpistolen, die sich abseilen, und Menschen, die sie angreifen. Was ich auch tun würde, wenn ich auf einem Schiff in internationalen Gewässern angegriffen würde. Ich habe nicht gesehen, was für Waffen sie benutzen, aber ich habe keine Schußwaffen gesehen.

Und schließlich weiß ich heute, daß die zehn Toten keine Israelis sind. Kurz bevor ich nach Berlin aufgebrochen bin, hat mir einer der Schweden erzählt, die an Bord jenes Schiffes waren, daß er Tote mit Kopfschüssen in die Stirn gesehen hat, was nicht passiert, wenn ein Soldat um sein Leben kämpft. Dann ist er nicht mehr so zielsicher. Wir müssen abwarten, was die Zeugen darüber erzählen. Wir wissen es noch nicht.

Frage von Bettina Marx (Deutsche Welle): Denken Sie darüber nach, Israel zu verklagen? Wußten die Soldaten, wer Sie sind, als sie Sie an Land brachten? Wie reagierten sie?

Ich denke, wir sollten uns fragen, ob es nicht möglich ist, zumindest das israelische Militär vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Ich denke, das wäre möglich, denn sie haben uns angegriffen, einen Akt der Piraterie begangen und Menschen entführt – in internationalen Gewässern. Für mich ist es zu früh, um zu sagen, ob das getan werden muß. Aber es ist möglich, und dann sollte es vielleicht auch gemacht werden.

Als wir in der Nacht unterwegs waren, da waren wir sicher, daß die Israelis genau wußten, wo wir waren und wer an Bord war. Der Mossad hat einen sehr guten Ruf als sehr geschickter Geheimdienst. Als sie mich an Land gebracht haben, kam sofort ein Mann vom israelischen Außenministerium und wich nicht mehr von meiner Seite. Natürlich wußten sie, wer ich bin.

Frage von Alan Posener (Die Welt): Sind Sie sich darüber im klaren, daß die IHH, die türkische Organisation, die die »Marmara« ausgestattet hat, in der ganzen Welt als Finanzier des islamischen Terrorismus bekannt ist? Das müssen Sie gewußt haben, bevor Sie ausliefen, denn dieses Schiff führte die Flottille an. Wie können Sie sagen, daß Sie nicht wußten, was auf diesem Schiff geschah, wenn es von einer Organisation gechartert war, die in Deutschland als Finanzier von terroristischen Operationen bekannt ist? Kennen sie Lenins Wort von den nützlichen Idioten? Denken Sie nicht, daß die Hamas ein oder zwei Seiten Lenin gelesen hat?

Ich nehme hin, daß Sie sehr aggressiv sind. Wenn Sie das wollen. Mir ist das egal.

Alan Posener: Ich bin nicht aggressiv, ich stelle nur eine Frage.

Fragen können auch aggressiv sein. Aber ich werde Ihnen antworten, wenn Sie etwas Geduld haben. Als das Projekt aufgebaut wurde, war eine der ersten Grundlagen, daß es ausschließlich mit humanitären Mitteln arbeiten sollte. Wenn Ihre Anschuldigungen sich als wahr herausstellen sollten, kann ich Ihnen versichern, daß ich sehr wütend sein und entsprechen reagieren werde.

Als zweites werde ich eine Frage beantworten, die Sie nicht gestellt haben. Nur um sicherzugehen, daß Sie wissen, wer ich bin. Ich bin sehr kritisch gegenüber der Hamas und dem, was sie im Gazastreifen tut. Bevor wir aufbrachen, bekam ich Fragen wie diese gestellt: »Denken Sie nicht, daß es naiv ist, zu glauben, daß die Hamas kein Kapital aus dem schlägt, was Sie ins Land bringen?« Ich antwortete: »Natürlich kann ich nicht garantieren, daß das nicht geschieht.« Aber ich sage Ihnen eins: Wenn das Haus brennt, müssen Sie Wasser holen. Woher das Wasser kommt, ist eine nachrangige Frage. Natürlich kann ich nicht garantieren, daß die Hamas nichts getan hätte.

Nein, ich glaube nicht, daß ich ein nützlicher Idiot bin. Wenn jetzt Menschen auf der ganzen Welt von Israel verlangen, die Blockade von Gaza sofort zu beenden, denke ich: Wow, das ist sehr gut. Das war jedenfalls eins der Ziele, die wir hatten. Mal sehen, was wir noch schaffen. Nein, ich glaube nicht, daß ich ein nützlicher Idiot bin. Ich ziehe es vor, keiner von diesen nützlichen Idioten zu sein, die überall herumsitzen und jetzt zynisch behaupten, daß Solidarität nichts wert sei. Zu denen möchte ich lieber nicht gehören. Ich bin einigermaßen schlau und ich weiß auch, wie ich das einsetzen kann.

(…)

Frage: Was haben Sie erwartet, was passieren würde? Kam die Gewalt überraschend für Sie?

Ich sagte schon, daß ich nicht naiv bin und kein nützlicher Idiot. Was bin ich also? Ich denke, ich bin ein Realist. Ich erwartete, daß die Israelis die Marine benutzen würden, um den Konvoi zu stoppen. Ich dachte, sie würden das dort tun, wo sie das Recht dazu haben. Und ich dachte, sie seien schlau genug, keine Gewalt gegen Menschen einzusetzen, sondern gegen die Schiffe. Sie hätten sehr leicht auf das Ruder oder den Propeller zielen können, und die Schiffe wären nicht mehr in der Lage gewesen, weiterzufahren. Dann hätten sie die Schiffe wegschleppen können und fertig. Das wäre passiert, wenn sie etwas schlauer gewesen wären. Jedenfalls hätte ich das getan, wenn ich Marineoffizier in Israel wäre. Aber einen friedlichen Konvoi anzugreifen, so auszurasten und so tief zu sinken, Mord zu begehen. Jedenfalls denke ich, daß es das ist, was sie auf diesem Schiff getan haben. Wir werden das noch herausfinden. Ich verstehe nicht, warum sie so große Gewalt angewendet haben und in dieser Weise. Das war das Dümmste, was sie tun konnten. Ich denke, in der israelischen Regierung wird jetzt hart darüber diskutiert, warum sie sich so entschieden haben. Wir werden das in den nächsten Tagen herausfinden. Ich verstehe nicht, warum sie sich so entschieden haben und hatte etwas anderes erwartet: Gewalt ja, aber gegen die Schiffe, nicht gegen die Menschen. (…)

Frage eines norwegischen Journalisten: Was werden Ihre nächsten Schritte im Kampf für die Menschen in Gaza sein? Würden Sie Intellektuelle in anderen Ländern ermutigen, israelische kulturelle und akademische Institutionen zu boykottieren? Das wird in Norwegen gerade diskutiert. Werden Sie Ihre Erfahrungen in einem Buch verarbeiten?

Was wird jetzt passieren? Wir wissen es nicht. Keiner weiß das. Aber ich denke, es wird viel passieren. Ich denke, die Geschehnisse haben vielen Menschen die Augen geöffnet. Ich denke, daß die Diskussion über einen Boykott wiederkehren wird. Sie wissen so gut wie ich, daß Boykotte nicht immer erfolgreich sind. Wir haben Erfahrungen, wo sie gut geklappt haben und wo sie überhaupt nicht geklappt haben. Aber wir müssen darüber sprechen. Wir müssen dringend eine Lösung für die untragbare Lage im Gazastreifen finden. Wir müssen uns alle daran beteiligen. (…)

Ich denke, wir müssen trotzdem weiter an einer Lösung arbeiten. So ist das eben. Politische Veränderungen sind Prozesse. Man macht nicht eine Aktion und geht dann nach Hause ins Bett. Es muß weitergehen. Ob meine Erfahrungen in einem Buch auftauchen werden, weiß ich nicht. Jetzt trauere ich um die Toten. Und ich bin wütend darüber, wie Menschen zusammengeschlagen wurden.

Frage von Rüdiger Göbel (junge Welt): Wenigstens ein Journalist sollte Ihnen für Ihren Mut danken, versucht zu haben, die Blockade zu brechen. – Es ist immer noch ein Schiff unterwegs, um die Blockade zu brechen, die irische »Rachel Corrie«. Meinen Sie, die Besatzung sollte wegen der Gefahren abbrechen? Die internationale Free-Gaza-Kampagne hat heute angekündigt, im September oder Oktober weitere Schiffe zu schicken. Werden Sie an dieser Reise teilnehmen?

Sie haben recht. Es waren sechs Schiffe, die angegriffen wurden, aber es sollten sieben sein. Die »Rachel Corrie« hatte Probleme, sie war zu der Zeit in Malta, glaube ich. Jetzt ist sie unterwegs, und ich denke natürlich, daß sie die Reise fortsetzen wird. Ich bin ziemlich sicher, daß die Israelis die Menschen auf diesem Schiff nicht angreifen werden. Was passieren wird, weiß ich auch nicht. Vielleicht machen sie jetzt das, womit ich ursprünglich gerechnet hatte, und gehen gegen das Ruder und den Propeller vor.

Die Frage ist auch in einem anderen Zusammenhang interessant. Dieses Mal waren wir mit sechs Schiffen unterwegs. Und die israelische Reaktion haben wir gesehen. Was, wenn wir in einem Jahr mit 100 Schiffen kommen? Was soll Israel tun? Die Bombe werfen? Wäre es nicht eine bessere Idee, die Blockade aufzuheben? Wir werden sehen.

Natürlich bin ich bereit, wieder an Bord zu gehen. Ich habe keine Angst um mich. Wenn Sie einen Platz brauchen, kann ich Ihnen einen organisieren.

Frage eines israelischen Schriftstellers: Möchten Sie dem israelischen Volk etwas sagen?

Ich habe in den letzten Tagen viele Telefonanrufe bekommen. Einer hat mich besonders gefreut. Er kam von der israelischen Tageszeitung Haaretz. Sie wollten ein Interview. Können Sie sich vorstellen, wie froh ich war, daß sogar die Israelis eine Einschätzung von mir wollten? Ich hoffe, daß ich morgen früh mit ihrem Redakteur sprechen kann.

Das ist eine symbolische Antwort. Natürlich will ich mit den Israelis sprechen und ich würde mir auch gerne anhören, was sie dazu zu sagen haben. Ich sage noch einmal, daß ich an den Dialog glaube. Der Dialog ist das Hauptelement, damit Demokratie überhaupt funktionieren kann. Und er ist das beste Instrument, um den Konflikt zu lösen. Laßt uns lieber damit arbeiten als mit Waffen. Dann kommen wir weiter. Das kann ich Ihnen und Ihren Freunden sagen. Übrigens Danke, daß Sie gekommen sind. (…)

Wenn ich etwas müde klinge, liegt das daran, daß ich es bin. Ich werde ihnen nicht vormachen, daß das keine ermüdenden und harten Tage waren. Ich habe viel Gewalt gesehen. Ich habe viel Aggression gesehen. Und ich habe viel Mut gesehen. Ich muß sagen, daß ein Grund für diese Pressekonferenz war, daß ich nach diesen Geschehnissen noch stärker als je zuvor glaube, daß es möglich ist, Solidarität zu zeigen und die Welt zu verbessern. Vielen Dank.

Übersetzung aus dem Englischen: Jan Maas

Quelle: junge Welt, http://www.jungewelt.de/2010/06-05/010.php

5. Juni 2010 Posted by | Israel, News, Palästina, Politik | , | Hinterlasse einen Kommentar

Wittmund: Bernd Mayer wegen Spontandemo verurteilt

Mayer: „Nicht zu öffentlicher Demo aufgerufen“
Von Manfred Stolle, Ostfriesen-Zeitung v. 22.05.2010

22. Mai 2010

Der Linke soll wegen Plakaten bei der Verabschiedung von Landrat Schultz 300 Euro Strafe zahlen. Der Verteidiger des Wittmunder Kreistagsabgeordneten Bernd Mayer legt Revision ein. Es geht ihm um einen möglichen Verfassungsverstoß.
Bernd Mayer nimmt das Urteil nicht hin.

Wittmund – Sieben Männer und Frauen zeigten am 2. November vergangenen Jahres in Bensersiel und drei weitere auf Langeoog bei der Verabschiedungsfahrt des Wittmunder Landrats Henning Schultz Protestplakate sowie eine Fahne der Linken und verteilten Handzettel. Weil die Spontan-Demo nicht angemeldet war, wurde der Kreistagsabgeordnete der Linken, Bernd Mayer, gestern vom Amtsgericht Wittmund zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt.

Dr. Tobias Kappelmann hatte für die Staatsanwaltschaft Aurich das doppelte Strafmaß, Verteidiger Lars Kokol Freispruch gefordert. Richter Dirk Mönkediek sagte in der Urteilsbegründung, es gehe um die Verletzung einer formalen Pflicht. Auch wenn die Kundgebung erst am Vortag beschlossen worden sei, hätte die „Eilveranstaltung“ am Montag noch angemeldet werden können. „Ich habe nicht zu einer öffentlichen Demo aufgerufen“, sagte der Angeklagte. Die Kundgebung sei bei einer Kreisversammlung der Linken am Sonntag spontan beschlossen worden. Über eine mögliche Anmeldepflicht habe er sich keine Gedanken gemacht. „Wir haben die Öffentlichkeit ja nicht eingeladen“, sagte er.

Mayer sei der Leiter der Kundgebung, weil sein Name auf Handzetteln stand

Mayer sei als Leiter der Kundgebung anzusehen, so der Amtsrichter, da sein Name auch unter den Handzetteln gestanden habe.Eine maßvolle Geldstrafe reiche da aus. Demonstrationen müssen per Gesetz 48 Stunden vor Beginn angemeldet werden. Diese Frist gibt es bei Eilkundgebungen nicht. Doch auch sie sind anzumelden. Spontan-Demos entstehen aus der Situation heraus und sind nicht meldepflichtig.

Rechtsanwalt Lars Kokot aus Leerhafe kündigte Revision gegen das gestrige Urteil des Amtsgerichtes Wittmund an. „Ist Mayer überhaupt als Veranstalter anzusehen?“: Dies sei eine zu klärende Frage. Das Amtsgericht habe es sich mit seinem Hinweis auf die Handzettel zu leicht gemacht.

s. dazu auch


Kommentar zu dem Urteil von Manfred Hochmann (Anzeiger für Harlingerland) 24.05.2010:

Skandalöser Vorgang

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift du Bild frei zu äußern und zu verbreiten.“ ( Artikel 5. Grundgesetz)
Wie ein Straftäter saß Bernd Mayer gestern auf der Anklagebank im Wittmunder Amtsgericht. Die Staatsanwaltschaft behandelte ihn auch als solchen. Gemeinsam mit „Gesinnungsgenossen“ habe Mayer gegen die aus öffentlichen Mitteln finanzierte  Abschiedsfeier des Ex-Landrats demonstriert – bei den Behörden aber nicht angemeldet.
Das  ist  ein  schwerer  Verstoß  gegen  das Versammlungsrecht  und  müsse mit  einer  Geldstrafe von 30 mal 20.- €  geahndet werden. Auch wenn das Gericht die Strafe abmilderte, so muss Mayer 300.- € bezahlen, gilt nun als vorbestraft.  War schon die Anklage gegen Mayer ein unerhörter Vorgang, so ist der gestrige Prozess nur als skandalös zu bezeichnen. Was ist eigentlich passiert? Im November vorigen Jahres hat eine sehr kleine Gruppe spontan demonstriert. Das Ganze hatte mehr den Charakter eines Happenings, wurde von allen Beteiligten locker gesehen.
Jetzt werden diese Geschütze aufgefahren. Da fehlt einfach die Verhältnismäßigkeit. Es fehlt auch die Weitsicht. Denn jetzt werden die Kritiker an den damaligen Vorgängen, aber auch am Rechtsstaat auf den Plan gerufen. Schön in die Karten gespielt.

24. Mai 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, Niedersachsen, Ostfriesland, Politik | , , | Hinterlasse einen Kommentar

Esterwegen: Gedenkkundgebung zum Befreiungstag

Befreiung – Bevrijding
Die durch DIE LINKE wieder angestoßene Diskussion, den 8. Mai als ‚Tag der Befreiung‘ zu einem nationalen Feiertag zu machen, war längst überfällig, denn immer noch möchten viele PolitikerInnen aus dem konservativen und rechten Spektrum diesen Tag als ‚Tag der Kapitulation‘ begreifen und am liebsten totschweigen.
Die ‚Deutsch-Niederländische Initiative 8. Mai‘ veranstaltet seit 1985 auf dem Friedhof des ehemaligen KZ Esterwegen ihre jährliche Kundgebung, um unter dem Motto „Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg“ der Befreiung zu gedenken. Auch in diesem Jahr nahmen ca. 200 Menschen, unter anderem auch viele junge AntifaschistInnen aus dem Weser-Ems-Raum, an der Veranstaltung teil.
Der deutsche Redner Kurt Buck, Leiter des Dokumentations- und Informationszentrums (DIZ) Emslandlager, beschrieb mit Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen polnischer und italienischer Häftlinge der Moorlager, wie diese die letzten Kriegstage und ihre anschließende Befreiung empfanden.
In seinem 2005 in Italien veröffentlichten Tagebuch erinnert sich z. B. der italienische Hauptmann Tommaso A. Melisurgo an seine Befreiung im Lager Groß Hesepe. In seinem Tagebuch schrieb er:
„Gross, Hesepe, 5.April, Donnerstag
Wenige Kilometer von meinem Gefangenenlager Gross Hesepe, das sich etwa 12 bis 15 Kilometer von der holländischen Grenze entfernt befindet, in dieser verfluchten deutschen Erde, in südöstlicher Richtung von hier, ist seit heute Morgen eine Schlacht im Gange zwischen den Panzern der kanadischen Kräfte , die auf der linken Seite der Ems operieren, und deutschen Einheiten der Nachhut, zusammengesetzt zum großen Teil aus SS, die sich Richtung Meppen zurückziehen. Die Maschinengewehre singen im Chor mit den Kanonen…
Im Lager herrscht große Aufregung unter den Gefangenen: im Gesicht jedes Einzelnen ist klar die Sicherheit zu lesen, dass die Befreiung nah ist… , es handelt sich um Stunden.
Inzwischen ist die Situation der Deutschen kritisch. Der Hauptmann und die deutschen Wächter haben ihre Wachposten rund um das Lager aufgegeben und stehen in der Nähe des Ausgangs.
Plötzlich verlassen sie das Lager, um ihre Kameraden auf dem Rückzug einzuholen. Es ist 18 Uhr: Die Kerkermeister sind weg. Nun sind wir frei.
Ich bin frei! Alle freuen sich… Eine regelrechte Explosion der Freude bricht aus allen Herzen. Man sieht rührende Szenen: sie umarmen sich, sie tauschen Glückwünsche füreinander und für ihre Familien aus…“
Buck beschrieb auch die Versuche der Evakuierung der Emslandlager vor der Befreiung durch kanadische, britische oder polnische Truppen, bei denen Hunderte Insassen kurz vor ihrer Befreiung getötet wurden. Im Lager Aschendorfermoor mussten die Gefangenen in den letzten Tagen vor Ankunft der alliierten Truppen miterleben, wie ca. 150 bis heute namentlich unbekannte Gefangene Opfer des angeblichen Hauptmanns Willi Herold und seiner Helfershelfer wurden, die wahllos Lagerinsassen ermordeten. Als englische Bomber zur Ausschaltung der um das Lager herum aufgebauten deutschen Flakstellungen das Lager mit Brandbomben bewarfen, starben weitere ca. 50 Gefangene an dem Tag, als die Wachmannschaften das Lager verlassen hatten und die Gefangenen befreit waren.
Abschließend erklärte Buck: „Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Das Erinnern an die Geschehnisse, an den Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeuten auch Verständnis und Toleranz zwischen den Völkern aufzubauen. Gedenken trägt zur Menschlichkeit, zur Achtung der Menschenrechte und zur Opposition gegen den Krieg bei. Wer heute den Krieg als Mittel zur Konfliktlösung verwendet, hat nicht aus der Vergangenheit gelernt.“

Die niederländische Juristin Carla van Os arbeitet für Defence for Children International in den Niederlanden. Sie verglich die Situation der MigrantInnen ohne gültige Ausweispapiere (Sans papiers) mit der deutscher Flüchtlinge Ende der 30er Jahre in den Niederlanden. Während in Deutschland der Faschismus wütete und viele Antifaschisten und Juden illegal über die Grenze nach Holland flohen, hatte die niederländische Regierung unter Colijn nichts Besseres zu tun, als diese Menschen aufzugreifen und sie nach Deutschland zurückzubringen. Heute leben in unserem Nachbarland viele MigrantInnen, die ebenfalls von der Polizei gejagt werden und am Rande der Gesellschaft ein menschenunwürdiges Leben führen. Van Os zitierte in ihrer Rede mehrmals den späteren UN-Flüchtlingskommissar Van Heuven Goedhart, einem der schärfsten Kritiker der Ausweisung von Flüchtlingen in 1930ern, und zeigte die Aktualität seiner Schriften auf.
Carla van Os ging auch auf den aktuellen Anti-Islamismus in ihrem Land ein und berichtete von einem Gespräch mit Hajo Meyer, einem deutschen Juden, der während des Faschismus in die Niederlande floh und sich heute für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Meyer sagte ihr: „Wenn ich heute höre, wie hier über die Muslime gesprochen wird, erinnert mich das auf das Schrecklichste an die Weimarer Republik und die Anfangsjahre Hitlers. Ersetze ‚Muslime‘ durch ‚Juden‘ und es wird deutlich, dass das so nicht sein darf.“
Zum Abschluss ihrer Rede sagte van Os: „In der jetzigen Wirtschaftskrise, in der MigrantInnen als Problem empfunden werden und zu Sündenböcken gemacht werden, dürfen wir nicht schweigen. Gedenkveranstaltungen wie die heutige sind wichtig, um vor jeglicher Ausschlussrhetorik zu warnen und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Das ist unsere Aufgabe heute – und morgen.“

Wie in den vergangenen Jahren sprach der mittlerweile 95jährige Ehrenvorsitzende der VVN-BdA Sachsen, Hans Lauter, zu den Teilnehmern. Er war, nachdem er 1935 von der Gestapo in Chemnitz verhaftet worden war, zehn Jahre inhaftiert, davon zwei Jahre in den Emslandlagern Walchum, Esterwegen und Aschendorfermoor. Lauter erklärte, er habe die ‚Hölle im Moor‘ nur durch die Solidarität der Gefangenen unbeschadet überstanden. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung hat uns das Überleben ermöglicht.“  Er forderte die Lehren aus den Emslandlagern an die folgenden Generationen weiterzugeben, um auch zukünftig ein Leben in Frieden, Demokratie und Gleichberechtigung führen zu können.

Die Veranstaltung wurde vom Papenburger Duo Rita und Paul mit antifaschistischen und Antikriegsliedern würdevoll umrahmt.

Tony Kofoet

12. Mai 2010 Posted by | Antifaschismus, Deutschland, Emsland, Landkreis Leer, Ostfriesland, Politik | , , | Hinterlasse einen Kommentar

Report Mainz: „Die Antikommunismus-Keule könnte ja wieder einmal wirken…“

Report Mainz: „Die Antikommunis-Keule könnte ja wieder einmal wirken…“

DIE LINKE hat in NRW den Sprung ins Parlament geschafft und wird dort in der kommenden Legislaturperiode mit 11 Abgeordneten vertreten sein. Dazu kommt, dass sie -obwohl kleinste Fraktion – durchaus das Zünglein an der Waage spielen könnte, wenn es um die Regierungsbildung im bevölkerungsreichsten Bundesland geht.

Diese Tatsache ist natürlich den Herrschenden im Lande ein Dorn im Auge. So hat sich Arbeitgeberpräsident Hundt bereits gemeldet und die SPD vor einer rot-rot-grünen Landesregierung gewarnt. Er sagte der Rheinischen Post: “ Das Industrieland Nordrhein-Westfalen braucht eine stabile und uneingeschränkt handlungsfähige Regierung.“ Das setze voraus, „dass die Linke keinen Einfluss auf die Regierungspolitik hat“.

Jetzt wird in den Medien eine Propagandamaschine in Gang gesetzt, wie wir sie bereits nach der Niedersachsenwahl erlebt haben. Wir erinnern uns, Ende Januar 2008 hatte DIE LINKE in Niedersachsen den Einzug in den Landtag geschafft und nur wenige Wochen später fanden in Hamburg Bürgerschaftswahlen statt.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die bürgerliche Presse zu einem Generalangriff gegen DIE LINKE blasen würde. Am 14. Februar, zehn Tage vor den Bürgerschaftswahlen in Hamburg übernahm das Magazin Panorama diese Aufgabe.

Der Redakteur Ben Bolz, der schon früher durch antilinke und antigewerkschaftliche Beiträge wie „Der Demagoge Oskar Lafontaine“, „Der Protest gegen den G8-Gipfel“ (mit Ralf Thomas Baus von der Konrad-Adenauer-Stiftung als Kronzeuge für die Unsinnigkeit der Proteste) und „Der vergessene Streik – ver.dis absurde Aktionen“ auf sich aufmerksam gemacht hatte, durfte sich als Warner vor der Unterwanderung der Partei DIE LINKE durch die DKP präsentieren. Schon am Nachmittag des 14.02. ging folgende Meldung über die Nachrichtenticker: „Christel Wegner, Fraktionsmitglied von „DIE LINKE“ im niedersächsischen Landtag und Mitglied der DKP, hat die Wiedereinführung der Staatsicherheit gefordert. Wegner sagte gegenüber dem ARD-Politikmagazin Panorama: ‘Ich denke…, wenn man eine andere Gesellschaftsform errichtet, dass man da so ein Organ wieder braucht, weil man sich auch davor schützen muss, dass andere Kräfte, reaktionäre Kräfte, die Gelegenheit nutzen und so einen Staat von innen aufweichen.’ „

Mit Christel Wegner fand Bolz eine Gesprächspartnerin, die ihm Antworten gab, die er im Vorfeld haben wollte. Der Beitrag wurde entsprechend geschnitten, so dass die Zuschauer den Eindruck gewinnen sollten, DIE LINKE wolle tatsächlich hier und heute die Stasi wieder haben.

Gestern Abend agierte Report Mainz nach dem gleichen Schema, fand aber keine Gesprächspartnerinnen, die den Reportern die „gewünschten“ Antworten gaben. Ein Bericht, der scheinbar schon während des Wahlkampfes in NRW gezeigt werden sollte, aber vermutlich aus Qualitätsgründen durchfiel, passte gut in den Generalplan ‚Verhinderung von Rot-Rot-Grün‘. Bei sieben der gewählten neuen ParlamentarierInnen seien „Zweifel an der Verfassungstreue“ laut geworden, hieß es in der Vorankündigung zum Bericht .

Die Abgeordneten Anna Conrads, die Mitglied der ‚Roten Hilfe‘ ist, wurde in die Terrorismusschublade gesteckt, da sich diese Organisation sich mit inhaftierten RAF-Mitgliedern solidarisiere und linksextremistische Bestrebungen verfolge. Die Genossin Conrads ließ sich allerdings nicht durch eine derart plumpe Fragestellung hereinlegen und antwortete: „Die Rote Hilfe ist eine Organisation, die sich für Menschen einsetzt, die bestimmten Repressionen ausgesetzt sind, und ich kann das sehr gut vereinbaren.“

Den Genossinnen Bärbel Beuermann und Carolin Butterwegge, die beide zur ‚Sozialistischen Linken‘ gehören wurde der Gründungsaufruf dieser Strömung vorgelegt, in dem es u.a. heißt, die DDR sei ein „legitimer Versuch“ gewesen. Diese Aussage wurde von beiden als richtig bezeichnet. Als der Reporter dann noch mit der schon bekannten Stasi-Frage aufwartete, antwortete Beuermann mit der Gegenfrage „Ist denn der Verfassungsschutz legitim?“

Dieser Report-Beitrag hat nicht das Ziel erreicht, DIE LINKE – wie im Fall Wegner -in die linksextremistische und DDR-nostalgische Ecke zu stellen. Aber,  immer wenn bürgerliche Journalisten die Antikommunismus-Keule herausholen, bleibt natürlich etwas davon in den Köpfen der ZuschauerInnen hängen und Rot-Rot-Grün wird als neues Gespenst verkauft, das unsere ach so demokratische und soziale Grundordnung gefährdet.

Wetten, dass in den nächsten Tagen und Wochen noch weitere deratige Berichte folgen …

11. Mai 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, Politik, Uncategorized | , , | 1 Kommentar

Die Krise des Euro bestätigt marxistische Perspektiven

Die Krise des Euro bestätigt marxistische Perspektiven PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Alan Woods
Tuesday, 11 May 2010
Anlässlich der schweren Krise des Euro veröffentlichen wir einen Artikel von Alan Woods, der Mitte Februar dieses Jahres geschrieben wurde und die derzeitigen Ereignisse in Europa vorhersagte.
„Letztes Jahr waren es die Banken, jetzt sind es ganze Staaten. Die Wirtschaftskrise, die sich Ende des letzten Jahres beruhigt zu haben schien, ist mit den drohenden Staatspleiten wieder voll im Gange.“

Mit diesen Worten begann jüngst ein Leitartikel im „Economist“, sie sind ein angemessener Ausdruck für den wachsenden Pessimismus der herrschenden Klasse. Erst gestern sprachen die Bürgerlichen von „Erholung“ und dem „Ende der Rezession“ Jetzt ringen Europas politische Eliten darum, das zu verhindern, was „Economist“ als „die größte Finanzkatastrophe in der elfjährigen Geschichte des Euro“ beschreibt. Plötzlich schaut die ganze Welt auf Griechenland, das sich mit der Möglichkeit des Staatsbankrotts konfrontiert sieht. Es wäre nicht das erste Mal in Europa: Schon vor einem Jahr wurde Island durch die Finanzkrise in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Das führte zu Demonstrationen und dem Sturz der Regierung. Island ist ein sehr kleines Land am Rande von Europa. Griechenland jedoch ist ein Mitglied der EU und Teil der Eurozone. Es wäre das erste EU-Mitglied, das zahlungsunfähig werden würde. Das ist ein ernstes Alarmsignal für die EU-Spitzen. Die Einführung einer gemeinsamen Währung bedeutet, dass alle Volkswirtschaften in einem unflexiblen System voneinander abhängig sind. Was zuerst als eine Quelle der Stärke gesehen wurde, entpuppt sich jetzt als eine gefährliche Quelle der Schwäche. Die Krise des griechischen Kapitalismus kann eine Krise des Euro verursachen und den Rest von Europa mit in den Abgrund reißen.

Vor über einem Jahrzehnt, zu einer Zeit, wo jeder den Euro anpries und voller Zuversicht einen unaufhaltbaren Trend hin zur europäischen Einigung prognostizierte, schrieben wir ein Dokument mit dem Titel „A Socialist Alternative to the European Union“, in dem wir eine dazu konträre Perspektive aufstellten:

„Das Problem von Maastricht ist, dass die europäischen Kapitalisten versuchen, die Integration voranzutreiben, obwohl die ökonomischen Bedingungen dafür nicht mehr gegeben sind. Bei Wachstumsraten von 5-6 Prozent, wie wir sie während der Phase des langen Wirtschaftsaufschwungs hatten, könnten sie die Währungsunion ohne große Schwierigkeiten über die Bühne bringen. Mit Wachstumsraten von nicht einmal 2-3 Prozent ist dies aber unmöglich.“

„(…) All das bedeutet, dass ein europäischer Bundesstaat auf kapitalistischer Basis ausgeschlossen ist. Besonders unter den Bedingungen einer Weltwirtschaftskrise, die in den nächsten Jahren unvermeidlich ist und die all die Widersprüche zuspitzen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass die EU auseinanderbrechen wird, weil es um die Verteidigung des europäischen Marktes gegen die USA und Japan geht. Die europäischen Staaten haben nur die Wahl, gemeinsam oder einzeln zu hängen. Aber der Trend hin zur europäischen Einigung wird in einer Flut von Konflikten und Streitereien untergehen.“ (A Socialist Alternative to the European Union, Alan Woods, 4. Juni 1997)

Das Scheitern des Versuches, eine europäische Verfassung einzuführen, bestätigte diese Perspektive. Und was schrieben wir über den Euro?

„Zwischen Theorie und Praxis eröffnet sich ein tiefer Abgrund. In der Theorie schaut alles ganz nett und logisch aus. Das Problem ist nur, dass das kapitalistische System alles andere als logisch ist. In der Abstraktion ist die Idee einer gemeinsamen europäischen Währung gut. Sie würde viele Kosten reduzieren, den Handel zwischen den Nationalstaaten billiger machen, die langfristige Wirtschaftsplanung und die Investitionsentscheidungen erleichtern und eine Vielzahl unnötiger Vorgänge überflüssig machen. In der kapitalistischen Praxis aber führt sie direkt ins Desaster. In der Theorie bedeutet es, dass alle nationalen Währungen in ein rigides System gezwängt werden. Keine nationale Regierung könnte die Wechselkurse ändern, d.h. keinem Land wäre es mehr gestattet, durch Abwertung einen Weg aus der Krise zu suchen.“

„Der Weg der Abwertung ist versperrt, deshalb müsste jedes Land intern eine Lösung suchen – was eine grausame Politik der Deflation und Arbeitslosigkeit bedeutet, besonders für die schwächeren Ökonomien. Es würden sich auch die Spannungen zwischen den verschiedenen Staaten und die Klassengegensätze innerhalb dieser Staaten enorm zuspitzen. Solch ein unflexibles monetäres System wäre nicht lebensfähig. In der Praxis würde von Anfang an jeder Nationalstaat versuchen, einen Vorteil gegenüber den anderen zu erringen. Dies wird alle nur denkbaren Konflikte hervorrufen, was letztendlich zu einem Zusammenbruch führen würde. Auch der Versuch, ein System der andauernden Sparpolitik einzuführen, würde nicht funktionieren.“

„Um das hauptsächliche Problem auf den Punkt zu bringen: die Idee, so unterschiedliche Volkswirtschaften, die in verschiedene Richtungen tendieren, auf der Grundlage eines gemeinsamen Fonds und einer bindenden Gesetzgebung erfolgreich in eine Währungsunion zu integrieren, kann nicht funktionieren. Die kapitalistische Produktionsweise ist von Natur aus anarchisch. Der Versuch, diese Volkswirtschaften in einer rigiden gemeinsamen Wechselkursrate zusammenzuschließen, wird unverzüglich eine Reihe von Verzerrungen und unerträglichen Widersprüchen mit sich bringen. Wenn die ökonomischen Bedingungen eines Landes einen Anstieg der Zinssätze verlangen, wird es in einem anderen Land gerade umgekehrt sein. Wer entscheidet nun? Es ist nicht allzu schwer, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Als die zentrale europäische Wirtschaftsmacht wird Deutschland seine Vorstellungen mittels der Bundesbank durchsetzen, die die anderen Zentralbanken kontrollieren wird. Wir hatten schon jetzt einen Vorgeschmack darauf, als die Bundesbank ohne Konsultation seiner Partner die Zinssätze anhob. Das war sogar schon der Fall, bevor die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) eingeführt wurde. Die WWU würde lediglich dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis in Europa einen offiziellen Stempel aufdrücken.“

„In einem fixen Wechselkurssystem müssen einige zwangsläufig verlieren. (…) Auch wenn Spanien und Italien angekündigt haben, schon in der ersten Runde der WWU beizutreten, so sind sie doch zu schwach, um dies zu tun, ohne gewaltige Widersprüche im eigenen Land hervorzurufen. Griechenland ist automatisch ausgeschlossen, obwohl die Regierung Simitis einen bisher noch nicht gesehenen Angriff auf den Lebensstandard in der Hoffnung gestartet hat, sich in ferner Zukunft doch noch dafür zu qualifizieren. Genauso erledigen die portugiesischen SozialistInnen die Drecksarbeit für das Kapital. Das bereitet aber nur den Boden für eine Explosion des Klassenkampfes in all diesen Ländern in den nächsten Jahren auf.“

„(…) Die Einführung der WWU wird den Zyklus von Auf- und Abschwüngen nicht abschaffen. Die kommende Rezession wird zwangsläufig die Finanzen eines jeden Landes, je nach seiner relativen ökonomischen Stärke, unterschiedlich beeinflussen. Das wird ganz einfach zu einem Rückgang der Einnahmen aus Steuern und einem Anstieg der Ausgaben (für steigende Arbeitslosigkeit etwa) führen. Was für Maßnahmen könnte die britische Regierung unter den oben angeführten Bedingungen ergreifen? Dem Maastricht-Vertrag zufolge hätte sie keine Möglichkeit, Kredite aufzunehmen, um das Defizit abzudecken. Der einzige Ausweg wären Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen mitten in einer Rezession.“

„(…) Auf einer kapitalistischen Basis kann eine stabile Währungsunion ohne einen geeinten Staat nicht erzielt werden. Außerdem muss unter den Bedingungen eines alles dominierenden Weltmarktes eine regionale Währung in das globale Wechselkurssystem passen. (…) Wie man aber inmitten eines durch ein flexibles Wechselkurssystem charakterisierten Weltmarktes ein fixes Wechselkurssystem aufrechterhalten soll, bleibt unklar. Ökonomen in den USA stehen dieser Idee offen skeptisch gegenüber. Wie stabil wird der Euro sein? Falls die internationalen Märkte von den Aussagen der europäischen Banker nicht überzeugt werden, dann wird der Euro genauso von Währungskursspekulationen gefährdet sein, wie es heute etwa die italienische Lira ist.“

„(…) Die gesamte Last einer Rezession müssen die Nationalstaaten selber tragen. Die Absicht ist dabei, dass jede Regierung gezwungen ist, mit den guten alten Methoden wie Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen und Privatisierungen ‚gesunde Finanzen‘ aufrecht zu erhalten.“

„Diese Politik lässt außer Acht, dass vor dem Ersten Weltkrieg die Gewerkschaften und Arbeiterparteien relativ schwach waren und die Arbeiterklasse selbst in den meisten Ländern nur eine Minderheit darstellte. (Großbritannien stellt eine Ausnahme dar, weil es viel früher als die anderen Länder in die Phase kapitalistischer Entwicklung eingetreten war.) Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Kräfteverhältnis in Europa grundlegend verändert. Die sozialen Reserven der Reaktion, vor allem die Bauernschaft, wurden durch die Industrialisierung stark dezimiert. Die Arbeiterklasse ist zu der dominanten in der Gesellschaft geworden und wird sich die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte nicht widerstandslos wegnehmen lassen.“

„Der Versuch, zur ‚klassischen‘ Periode des Kapitalismus zurückzukehren, wird zu einem beispiellosen Aufschwung des Klassenkampfes führen. Aber es gibt keine Garantie, dass er den von den Kapitalisten erwarteten Nutzen bringen wird. Indem sie selbst den schwächsten europäischen Ökonomien eine gewaltige Last auferlegen, laufen sie Gefahr, einen völligen Kollaps zu provozieren. Die Kriterien der vorgeschlagenen Währungsunion setzen voraus, dass jedes Land auf eigenen Füßen stehen muss – um den Ausdruck zu benutzen, der von allen Bankern geliebt wird.“

„Gegenwärtig können die Regierungen auf den internationalen Finanzmärkten Geld leihen, um ihre Schulden zu bedienen und werden (mit der Ausnahme Griechenlands) als sichere Anlagemöglichkeiten betrachtet. Aber Italiens Schuldenrate ist mehr als doppelt so hoch wie die Deutschlands. Wenn Italien keine eigene Währung und Zentralbank mehr hat, wird so eine Schwäche auf jeden Fall zu einer Erhöhung der Kreditkosten führen. New York zahlt manchmal höhere Risikoprämien als Italien, obwohl sein Schuldenanteil weit niedriger ist.“

„Selbst jetzt können sich die wichtigsten Kredit-Rating-Agenturen nicht darauf einigen, wie die zukünftigen in der neuen Währung aufgenommenen Schulden eingestuft werden sollen. Dies lässt vermuten, dass es noch gröbere Divergenzen in den Kreditratings der europäischen Länder nach 1999 gibt. Die Kapitalisten in Italien und anderen schwachen Ländern werden gezwungen sein, höhere Zinsen als andere zu zahlen, was natürlich die Profitrate senkt. Das kann langfristig die Finanzen eines solchen Staates destabilisieren und die Gefahr einer Krise erhöhen. Zum ersten Mal sprechen internationale Investoren (natürlich hinter vorgehaltener Hand) über das Risiko einer Zahlungsunfähigkeit in Europa.“

„Genauso wie Quebec aufgrund der dortigen Sezessionsbestrebungen als hohes Risiko gewertet wird und hohe Prämien zahlen muss, um sich Geld zu leihen, so rechnet das internationale Finanzkapital schon vor der Einführung mit einem Zusammenbruch der WWU. Man kalkuliert damit, dass die Politik der Sparmaßnahmen solche sozialen Unruhen auslösen könnte, dass sie wieder zusammenbrechen würde. Beginnend mit Ländern wie Italien oder Finnland würden die schwächeren Länder der Reihe nach wegbrechen. Bei einer Rezession würde das Ganze dazu tendieren, auseinanderzubrechen.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Das schrieben wir 1997. Zu der Zeit war Griechenland noch nicht Mitglied der Eurozone, weswegen wir dachten, dass die schwächsten Glieder in der Kette Italien, Spanien, Portugal und Finnland seien. Aber die generelle Stoßrichtung unserer Argumentation war absolut richtig, obwohl sie im völligen Gegensatz zur allgemein optimistischen Stimmung in Bezug auf den Euro und die europäische Einigung stand, die zu dieser Zeit vorherrschte. Damals standen sogar einige unserer UnterstützerInnen dieser Perspektive skeptisch gegenüber. Jetzt ist sie eine Tatsache.

Der Euro brach im Vergleich zum Dollar seit November um 9,9 Prozent ein, was die Sorge verdeutlicht, dass Länder wie Griechenland es nicht schaffen werden, ihre Haushaltsdefizite zu senken. Die Einheitswährung und Wertpapiere in der Region fielen weiter, als die europäischen Politeliten sich trafen, um Pläne zur Verteidigung Griechenlands zu diskutieren. Die Investoren jedoch waren nicht beeindruckt und monierten, dass der Plan nicht detailliert genug sei.

Laut dem Strategen der ‚Societe Generale’ Albert Edwards sind die schwachen kapitalistischen Ökonomien Südeuropas „gefangen in einer überbewerteten Währung und werden durch ihre geringe Wettbewerbsfähigkeit erstickt, eine Situation, die zum Auseinanderbrechen des Euro-Blocks führen wird“ (12. Februar, Bloomberg- Report). Das Problem für Länder wie Portugal, Spanien und Griechenland „ist, dass über Jahre unangemessen niedrige Zinssätze zu Überhitzung und rapider Inflation führten“. Jetzt würde, meint Edwards, sogar wenn die Regierungen „ihre Haushaltsdefizite reduzieren könnten, der Mangel an Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone dazu führen, dass Jahre der relativen (und wenn man die Aussichten andernorts betrachtet, vermutlich absoluten) Deflation nötig wären. Jede Hilfe an Griechenland würde das unvermeidliche Aufbrechen der Eurozone nur hinauszögern.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser)

Gefahr von mehr Staatspleiten

Es ist nicht sicher, dass die derzeitige Krise zu einem schnellen Untergang des Euro führen wird. Es steht zu viel auf dem Spiel für die französische und deutsche Bourgeoisie, die alles tun werden, um die gemeinsame Währung zu stützen. Wenn sich aber die Krise vertieft, wird sich die Situation verändern.

Wir befinden uns in einer sehr ernsten Situation für ganz Europa. Die Gefahr ist, wenn Griechenland der Staatspleite überlassen wird, könnte das eine Welle weiterer Zahlungsunfähigkeiten auslösen, die nicht nur Spanien, Portugal, Italien und Irland betreffen könnten, sondern sogar Großbritannien. Das würde zum sofortigen Zusammenbruch der jetzt schon kraftlosen Wirtschaftserholung in Europa führen und die Auswirkungen wären auf der ganzen Welt zu spüren. Das erklärt die Besorgnis der europäischen Spitzenpolitiker.

Es gab Spekulationen über ein von Deutschland geführtes Rettungsmodell. Dies ist aber problematisch. Wenn es angewandt wird, könnten andere europäische Länder folgen, die unterwürfig um Unterstützung anfragen würden. Die Wertpapiermärkte sind sich dessen bewusst, dass das Problem auf keinen Fall nur auf Griechenland reduzierbar ist. Die internationalen Gläubiger sind in steigendem Maße verunsichert über die Kreditwürdigkeit von Spanien, Irland und Portugal und es gibt Spekulationen über den Zustand der britischen Staatsfinanzen. Es ist eine Sache, das relativ kleine Griechenland zu retten. Aber was wird passieren, wenn Spanien, Portugal, Irland oder sogar Großbritannien an der Reihe sind?

Um den Märkten zu versichern, dass diese Länder fähig und willig sind, ihre Schulden zurückzuzahlen, bestehen die internationalen Kredithaie darauf, dass sie die Steuern erhöhen und die Ausgaben kürzen. Aber so eine Politik ist eine vorprogrammierte Katastrophe für Ökonomien, die immer noch in einer Rezession gefangen sind und eine steigende Arbeitslosigkeit verzeichnen. „Das ist Wahnsinn. Wenn wir jetzt die Ausgaben kürzen, wird das die Erholung auslöschen!“ Aber die Klagelieder der Keynesianer dringen nicht zu den eisigen Herzen der internationalen Banker durch, die nur daran interessiert sind, ihr Geld zurück zu bekommen – mit einer ordentlichen Verzinsung, wie sich versteht.

Europas Probleme sind nicht die einzigen Gründe für Besorgnis. China hat, besorgt über steigende Inflation und Finanzblasen, gerade erst begonnen, die Kreditvergabe einzuschränken. Indiens Zentralbank hat die erforderliche Kapitaldeckung für Banken erhöht und Brasiliens Konjunkturpaket wird eingestellt. Die großen Zentralbanken ziehen sich von der Politik des „quantitative easing“ zurück, sie drucken Geld, um längerfristige Sicherheiten zu kaufen und die auf den Höhepunkt der Krise beschlossenen Liquiditätshilfen laufen jetzt aus.

Nachdem der hauptsächliche (wenn nicht sogar der einzige) Motor der „Erholung“ die Staatsausgaben waren, ruft das Bedenken bei den Investoren hervor, die, wie wir wissen, nicht durch rationale Überlegungen gesteuert werden, sondern durch den selben Herdeninstinkt wie die Gnus der afrikanischen Savannen, die plötzlich in Panik geraten. Es gibt bereits Zeichen einer solchen Veränderung. Die Preise von Anleihen und die Aktienmärkte sind stark gefallen, auch die Konsumgüterpreise sind eingebrochen und es herrscht erhöhte Unsicherheit.

Der MSCI World Index, der Aktien der ganzen Welt umfasst, ist seit seinem Höhepunkt am 14. Januar um 10 Prozent gefallen. Statt des früheren Optimismus über eine V-förmige Erholung werden die internationalen Wirtschaftsmedien nun von Pessimismus über eine W-förmige Rezession dominiert. Die Befürchtungen wachsen, dass die Regierungen gezwungen sein könnten, Liquiditätshilfen zu früh zu streichen und die Erwartungen einer Erholung 2010 sich in einer neuen Krise zerstäuben.

Die Zahlen zum BIP der USA zeigen ein auf das Jahr umgerechnete Wachstum von 5,7 Prozent im vierten Quartal 2009. Aber diese Zahlen sind irreführend, da das Wachstum vor allem durch Firmen, die ihre Lagerbestände auffüllen, verursacht wurde. Die US-Wirtschaft baut immer noch Arbeitsplätze ab (wenn auch langsamer), Aktienkurse fallen und der Immobilienmarkt ist immer noch schwach. Es gibt keinerlei Anzeichen für ein Steigen des Privatkonsums und mit jetzt schon hohen Überkapazitäten werden die Unternehmen höchstwahrscheinlich ihre Investitionen nicht erhöhen.

In Europa und Japan ist die Situation noch viel schlimmer. Obwohl sich Japans Export erholt, rutschte die Wirtschaft zurück in eine Deflation. In der Eurozone zeigte die Erholung schon lange vor der Krise Griechenlands Schwächen.
Offenkundig ist die Erholung nur in einigen der „aufstrebenden“ Ökonomien wie Indien und Brasilien, die starke Binnennachfrage und nur geringe Überkapazitäten hatten. China konnte eine hohe Wachstumsrate durch eine enorme Erhöhung der Direktinvestitionen der Regierung erhalten, aber deswegen ist seine Wirtschaft auch sehr anfällig gegenüber einer plötzlichen Reduzierung der Staatsausgaben. Die Aussichten für die Weltwirtschaft sind deswegen extrem unsicher. Das ist es, was hinter den nervösen Investoren steckt.

Die Wahrheit ist, dass der Aufschwung von Staatshilfen, Krediten und Garantien der Banken sowie von Subventionen für Großunternehmen abhängt. Vergleichbar mit einem klapprigen, alten Mann auf Krücken – so wird der Kapitalismus von staatlichen Anreizen gestützt. Dies trifft vor allem auf schwache kapitalistische Ökonomien wie Griechenland zu. Die Spekulanten kreisen über dem Land wie Geier über einem verendenden Tier. Wenn Griechenland untergeht, werden die Investoren ihr Vertrauen in die anderen, stark verschuldeten Staaten wie Spanien, Portugal oder Irland verlieren, was eine Kettenreaktion auslösen kann, die auch an den robusteren Wirtschaften nicht spurlos vorübergehen wird.

Die Gefahr ist, dass die großen, reichen Ökonomien die Fehler, die 1937 in den USA oder 1997 in Japan begangen wurden, wiederholen werden: Die Regierungen – im Glauben, das Schlimmste wäre vorbei, so dass Steuern wieder erhöht und die Währungspolitik wieder gezügelt werden könne – treiben ihre Ökonomien wieder zurück in die Rezession. Bürgerliche Wirtschaftswissenschafter und Politiker wollen uns weiterhin weismachen, dass sie die „Lektionen aus der Geschichte gelernt“ hätten. Doch die Kapitalisten wiederholen regelmäßig die Fehler der Vergangenheit.

Die Krise der Bourgeoisie

Revolutionen beginnen immer an der Spitze, mit Krisen und Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse. Die steigenden Konflikte in der US-amerikanischen herrschenden Klasse zeigen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden. Die Konflikte zwischen Keynesianismus und Monetarismus, zwischen Republikanern und Demokraten, sind ein Zeichen für die Tiefe dieser Krise. Obama versucht, alles und jeden zu befriedigen, zeigt aber in Wirklichkeit totale Ohnmacht. Die ständigen Schwankungen Obamas sind ein Ausdruck von Unsicherheit und dem Fehlen wirklicher Perspektiven für die Bourgeoisie als ein Ganzes. Er ist ein Meister darin, demagogisch Hoffnung auszustrahlen und den einfachen US-AmerikanerInnen Hoffnung zu geben. Aber seine Rhetorik ist frei von jedem echten Inhalt, und diese Leere wurde durch die Ereignisse offengelegt.

Die Spaltungen und Schwankungen der Bourgeoisien in Europa und den USA sind Spiegelbilder der Tiefe der Krise. All ihre Hoffnungen legten sie in eine Wirtschaftserholung. Das ist aber wie eine Fata Morgana, die jedes Mal verschwindet, wenn man ihr näher kommt. Das zentrale Problem sind nicht mangelnde Kredite; sondern die Überproduktion, die sich als Überkapazität darstellt. Die Produktion bleibt weit unter ihrem Potential. Das ist die größte Geißel des Kapitalismus und ein klarer Beweis dafür, dass dieses System seine historische Zweckmäßigkeit überlebt hat.

Die Stagnation der Produktivkräfte und der unerbittliche Anstieg der Arbeitslosigkeit – selbst zu einer Zeit, wo die Rezession beendet sein sollte – sprechen die gleiche Sprache. Die Problematik der enormen und unhaltbaren Defizite von Griechenland, Spanien und Portugal ist nicht der Grund, sondern nur eine Reflexion des wirklichen Problems.

Die bürgerlichen Ökonomen haben nichts vorhergesehen und nichts verstanden. Am 21. Oktober 2009 schrieb die „Financial Times“: „Noch 2006 gab es die Übereinstimmung, dass die Katastrophe, die sich entwickelte, einfach unmöglich sei.“ Sie reagierten auf die Krise, die in ihren Vorstellungen „einfach unmöglich“ war, durch Maßnahmen, die sie ebenso als „einfach unmöglich“ ansahen, nämlich riesige Geldmengen in das Finanzsystem zu pumpen und damit Schuldenberge aufzutürmen, die ohne Beispiel in Friedenszeiten sind.

Jetzt sagen dieselben Bürgerlichen, dass Defizite gefährlich sind und die Regierungen sie durch brutale Angriffe auf die Lebensstandards unter Kontrolle bringen müssen. Vom Standpunkt orthodoxer bürgerlicher Ökonomen ist das unbestreitbar. Aber dann werden sie mit dem Widerspruch im Regen stehen gelassen, dass jeder Versuch, so eine Politik durchzuführen, in Sachen Wirtschaftswachstum den gegenteiligen Effekt haben würde.

Die Bourgeoisie findet sich in einem unlösbaren Dilemma gefangen. Auf dem Treffen der Finanzminister der G7 am 6. Februar dieses Jahres kamen sie zu dem Schluss, dass es zu früh wäre, Staatshilfen zurückzuziehen. Aber sie konnten sich nicht auf einen Plan einigen, um eine finanzielle Katastrophe zu verhindern. Sie kennen nur eine Lösung für die riesigen Defizite, die durch die Rettungsschirme für des kapitalistische System verursacht wurden: eine Politik von brutalen Kürzungen, einem Sparkurs und Konterreformen für eine ganze Generation. Aber sie haben ein kleines Problem: So eine Politik wird auf den Widerstand der Arbeiterklasse stoßen. Griechenland zeigt genau das.

Heutzutage erachten es ArbeiterInnen in vielen Ländern als normal und als ein automatisches Recht, dass sie, wenn sie mit 60 oder 65 zu arbeiten aufhören, etwas Geld vom Staat bekommen. Aber im Kapitalismus ist das nicht normal und auch kein automatisches Recht.

Die Länder der Eurozone haben heute schon rekordverdächtige 110 Mrd. € an den Finanzmärkten ausgeliehen und damit die Kreditkosten für die Länder mit den schwächsten Staatsfinanzen nach oben getrieben, da diese einen hohen Preis für ihre riesigen Schuldenberge zahlen. Die Lösung der Bourgeoisie besteht darin, eher die Ausgaben zu kürzen als die Steuern zu erhöhen. Manche reden sogar davon, die staatlichen Renten komplett abzuschaffen und auf lange Sicht wird das auch auf die Tagesordnung gesetzt werden. Sie wird damit anfangen, die Lage durch Maßnahmen wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu testen. Frankreich bewegt sich schon in diese Richtung und andere Länder folgen zögernd.

Was nun?

Der Kapitalismus entwickelt sich in Auf- und Abschwüngen. An einem bestimmten Punkt wird die kapitalistische Welt unausweichlich in eine Periode der industriellen Erholung eintreten – In einigen Ländern haben wir schon die ersten Anzeichen dafür gesehen. Das ist ein Naturgesetz in der kapitalistischen Gesellschaft. Jedoch bedeutet eine wirtschaftliche Erholung keineswegs die Wiederherstellung des Gleichgewichts der Klassenverhältnisse in der Gesellschaft. Das wird durch die Krise des griechischen Kapitalismus bewiesen, wie die „Financial Times“ klar erkennt:

„Die Turbulenzen in Griechenland spiegeln die Ungleichgewichte in den 16 Euroländern wider, und jeder wird dazu etwas beitragen müssen, diese Krise wieder unter Kontrolle zu bringen. Konkret haben Griechenland und ein paar andere Länder – besonders Portugal und Spanien – sehr große Leistungsbilanzdefizite, während Deutschland, Europas Exportweltmeister und die größte Ökonomie in der Eurozone, dazu tendiert, große Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen. Das griechische Defizit betrug im dritten Quartal 2009 außerordentliche 12% des BIP, während das Portugals bei 10% lag.“ (FT, 1. Februar 2010)

Die griechische Krise ist ohne Zweifel die gefährlichste in der Geschichte der Eurozone. Die höchsten Amtsträger der EU forderten Griechenland dazu auf, die Lohnkosten zu senken, die Rentenreform voranzutreiben und 10% der Ausgaben einzusparen, um sich aus der derzeitigen misslichen Lage zu befreien. Papandreou hat einen Deal mit den konservativen Oppositionsführern gemacht, um soziale Unruhen zu verhindern. Aber die Aussicht von drei Jahren ökonomischer Entbehrungen ist ein vollendetes Rezept für eine Explosion des Klassenkampfes in Griechenland.

Das verstehen die ernsthaften Strategen des Kapitals wie Edwards, der schreibt: „Anders als Japan oder die USA gibt es in Europa eine bedauerliche Tendenz zu Unruhen im Falle von extremen wirtschaftlichen Leid,“ Die Staaten in Südeuropa mit den schwächsten Finanzen „einer langen Periode von Deflation“ auszuliefern würde „höchstwahrscheinlich eine zu harte Prüfung für diese Staaten darstellen.“

Die herrschende Klasse und die EU üben gewaltigen Druck auf die Führung der PASOK aus, welche, mit der Ausrede von Schulden und Defizit, versuchen wird, ein hartes Sparprogramm durchzudrücken. Das provoziert eine starke Reaktion aus der Arbeiterklasse, die für die PASOK gestimmt hat und jetzt in einen Kampf zur Erhaltung ihres Lebensstandards eintritt. Am 10. Februar legten Beschäftigte im öffentlichen Dienst, von den Lehrern bis zu den Beschäftigten der Müllabfuhr, ihre Arbeit in ganz Griechenland nieder. Proteste griechischer Bauern sind sogar noch militanter. Ihre Traktoren blockieren seit drei Wochen viele griechische Autobahnen und den Hauptgrenzübergang nach Bulgarien.

Die PASOK-Führung versucht, ein Programm von harten Maßnahmen, wie dem Erhöhen von Massensteuern und der Drosselung von Ausgaben, durchzudrücken. Die letzten Oktober abgewählte konservative Opposition unterstützt dies aus vollem Herzen. Ihr Chef, Antonis Samaras, dankte dem Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso für seine „konstruktive Einstellung“. Aber der Konsens wird nicht halten. Die Lohnkürzungen werden viel Leid verursachen und die Bourgeoisie bereitet sich jetzt auf die „Reform“ des Rentensystems vor, die das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Griechenland von 58 auf 63 Jahre anheben soll. Sogar diese Maßnahmen werden nicht genügen, um die „Produktivität und Effizienz“ so zu steigern, wie die Bürgerlichen es verlangen.

Die griechische Regierung hat eine umfassende Überarbeitung des Steuersystems angekündigt, die auch eine verstärkte Besteuerung der Reichen beinhalten soll. Aber für die Reichen bieten sich tausend Wege, dem Zahlen von Steuern zu entgehen – gerade in Griechenland. Das zentrale Problem ist die Tiefe der Rezession, die, trotz aller hoffnungsfrohen Vorhersagen nicht überwunden ist. Die jetzige Erholung ist schwach und instabil.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), die die Bank of England, die US Federal Reserve und die Europäische Zentralbank beinhaltet, befürchtet, dass die Probleme der Banken weltweit noch lange nicht gelöst sind und leicht einen so genannte „double dip“ oder „W-förmigen“ Abschwung auslösen könnten. „Ein erhebliches Risiko ist dabei, dass der jetzige Stimulus nur zu einem vorübergehenden Ansteigen des Wachstums führen wird, gefolgt von einer längerfristigen Stagnation.“ Eine L-förmige Rezession wäre sogar noch schlimmer als die jetzige Situation. Sie würde eine Periode der „Stagflation“ andeuten, wie die, die Japan in den 1990ern erlebt hat.

Die Tinte auf einer Erklärung, die die europäischen PolitikerInnen zur Unterstützung Griechenlands in seinem Kampf um die Fortsetzung der Schuldenbedienung abgegeben hatten, war noch nicht trocken, da gab es schon wieder neue schlechte Nachrichten aus der Eurozone. Zahlen, die am Freitag, dem 12. Februar veröffentlicht wurden, zeigten, dass das BIP in den drei Monaten bis Ende Dezember in den 16 Staaten der gemeinsamen Währung nur um 0,1% gegenüber dem Vorquartal stieg. Dass überhaupt ein Anstieg zu verzeichnen war, ist vor allem Frankreich zu verdanken, wo ein Anstieg der Konsumausgaben die Wirtschaft um 0,6% ansteigen ließ. In den anderen großen Staaten der Region stagnierte das BIP entweder – wie es in Deutschland der Fall war – oder sank sogar, wie in Italien oder Spanien.

Frankreich steht vor allem wegen der starken Rolle, die der Staat in der Wirtschaft spielt, gut da. Die Regierungsinvestitionen stiegen im vierten Quartal um 0,7%, nach ähnlichen Raten in den beiden vorherigen Quartalen. Aber Frankreich wird diese Wachstumsraten nicht beibehalten können. Das Budgetdefizit betrug letztes Jahr 8% des BIP: Frankreich ist kaum ein Modell für Finanzdisziplin und könnte damit zu kämpfen haben, seine steigenden Schulden in den Griff zu bekommen.

In Spanien fiel das BIP im vierten Quartal um 3,1%, auf das Jahr umgerechnet, und die Nachfrage wird gedrückt durch die Schulden, die im langen Immobilienboom aufgehäuft wurden. Die Arbeitslosenrate liegt bei knapp 20%. Zapatero hat versucht, Konflikten mit den Gewerkschaften aus dem Weg zu gehen, aber ist jetzt dem mitleidslosen Druck der Anleihenmärkte ausgeliefert. Das bedeutet, dass er zu Kürzungen und Konter-Reformen gezwungen sein wird. Es gibt keine Zweifel, dass die spanischen ArbeiterInnen genauso wie ihre griechischen Kollegen reagieren werden.

Die Finanzkrise in Griechenland hat den Druck auf andere Länder erhöht, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Das wird zwei Effekte haben: es wird das Wachstum des BIP in der Eurozone bremsen und es wird überall zu einer Intensivierung der Klassenkämpfe führen. Der rapide Anstieg der Arbeitslosigkeit tendiert dazu, vorübergehend als eine Art Bremse für ökonomische Streiks zu wirken, aber der sich anhäufende Unmut in der Gesellschaft steigt und kann plötzlich ausbrechen, wie die jüngsten Streiks in Griechenland zeigen.

Die anfänglichen Auswirkungen der Krise bedeuteten in fast ganz Europa ein erhebliches Absinken der Streikzahlen. Die ArbeiterInnen fürchteten, ihre Jobs zu verlieren und hofften, bis zur nächsten Erholung durchzuhalten. Dieser Dämpfungseffekt hält jedoch nicht ewig an. An einem bestimmten Punkt, an dem sich die ArbeiterInnen bewusst werden, dass die Köpfe einziehen keine Lösung ist, verwandelt er sich ins Gegenteil und aus Angst schlägt die Stimmung der Arbeiter in Wut und das Verlangen um, sich zu wehren. Das ist es, was wir jetzt in einigen Ländern Europas anfangen zu sehen. Und das ist es, was die ernsthaften Strategen des Kapitals international besorgt.

„The Economist“ schreibt:

„Es ist immer noch eine Frage, wie lange die Bereitschaft [Steuererhöhungen zu akzeptieren] anhalten wird, da die GriechInnen die Kosten der Rezession berechnen. Die Banken haben die Kreditvergabe an die KonsumentInnen und kleine Unternehmen abgeklemmt. Die Anzahl der geplatzten Schecks hat Rekordmarken erreicht. In so einer Situation könnte das Gefühl der nervösen Beklemmung einer aufkochenden Unmut weichen.“

Und der Artikel fährt fort:

„[…Papandreou] bewegt sich auf einem Drahtseil. In einem Land, das Europas schwerste Unruhen der letzten Zeit vor gerade mal einem Jahr erlebte, ist der soziale Friede fragil. Aber die größte Gefahr geht von Randgruppen aus, etwa Ultralinken und desillusionierte Jugendlichen, nicht von den etablierten Gewerkschaften oder Parteien.“ („The Economist“, 12. Februar, Hervorhebungen durch den Verfasser)

Diese Äußerungen sind auf jedes Land in Europa zu übertragen. Griechenland ist nur insofern ein Spezialfall, als es eines von mehreren schwachen Gliedern des europäischen Kapitalismus ist. Aber in allen Ländern Europas unterstützen die bürgerlichen Parteien Einschnitte in den Lebensstandard der ArbeiterInnen „um die Krise zu lösen“ und die reformistischen Parteiführungen fügen sich gehorsam, manche widerwillig (Zapatero), manche begeistert (Brown). Die ArbeiterInnen werden nicht ruhig dabei zusehen, wie alle sozialen Errungenschaften der letzten 50 Jahre zerstört werden. Wir sehen bereits den Beginn einer großen Bewegung in Griechenland. In der nächsten Zeit wird sich dies in einem europäischen Land nach dem anderen wiederholen.

London, der 15. Februar 2010

Dieser Artikel erschien erstmals unter dem Titel Euro crisis confirms Marxist perspectives

Quelle: www.derfunke.de

11. Mai 2010 Posted by | Politik, Sozialismus, Uncategorized | , , | Hinterlasse einen Kommentar

Vorstand des Kreiselternrats zwang Vorsitzenden nach Westerwelle-Anzeige zum Rücktritt

Vorstand des Kreiselternrats zwang Vorsitzenden nach Westerwelle-Anzeige zum Rücktritt

Elternräte von der Kreisebene aufwärts setzen sich meistens aus Angehörigen des so genannten Bildungsbürgertums zusammen. Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten oder deren Ehefrauen lassen sich in dieses Gremium wählen, um das „Beste“ für ihre Kinder zu erreichen. Der Elternrat des Landkreises Leer hatte seit dem 01. November 2009 einen Vorsitzenden, der nicht in dieses gängige Schema passt und kein Angehöriger der lokalen Möchtegernelite ist. Der gelernte Schreiner Gunther Clemens aus Detern, der seinen Beruf als Fernfahrer 2004 aus Krankheitsgründen aufgeben musste, ist Hartz-IV- Empfänger und besaß die „Frechheit“ als Privatperson den FDP-Parteivorsitzenden Guido Westerwelle wegen Beleidigung und Diskriminierung anzuzeigen, nachdem dieser u.a. behauptet hatte, Hartz-IV-Empfänger würden sich faul auf dem Sozialteppich ausruhen. Clemens ist ein sozial engagierter Mensch, der  seit dem letzten Sommer ehrenamtlich in einem Jugendcafé in Leer arbeitet und u. a. Vorsitzender des Schulfördervereins ist.
Nachdem Clemens die Anzeige gegen Westerwelle gestellt hatte, wurde er von den übrigen Vorstandsmitgliedern gezwungen, von seinem Amt zurückzutreten. In einer Presserklärung heißt es, dass Clemens sein Amt missbraucht und dem Ansehen des Kreiselternrates schweren Schaden zugefügt habe. Sein Handeln sei „völlig inakzeptabel“ und in keiner Weise mit dem Kreiselternrat abgesprochen. (OZ, 09.03.2010)
Ein Trauerspiel. Da möchten die Damen und Herren BildungsbürgerInnen doch nicht in den Ruf kommen im Vorstand mit einem Hartz-IV-Empfänger zusammenarbeiten zu müssen, der die Frechheit besaß, sich als Privatperson gegen die verleumderischen Beleidigungen des Guido W. zur Wehr zu setzen, denn schließlich ist dieser der Vorsitzende der „Partei der Leistungsträger und Besserverdienenden“.  Mit einem „Schmuddelkind“ wie Herrn Clemens in Verbindung gebracht zu werden, könnte doch dem eigenen Image schaden.
Was wäre gewesen, wenn der/die Vorsitzende des Kreiselternrats  Westerwelles Äußerungen öffentlich befürwortet hätte?  Wäre ihm dann auch von seinen VorstandskollegInnen nahe gelegt worden, sein Amt aufzugeben. Sicher nicht.
DIE LINKE im Kreis Leer solidarisiert sich mit Gunther Clemens und fordert den Kreiselternrat auf, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Wir brauchen engagierte Menschen wie Gunther Clemens, welche die Interessen der Kinder aus allen Schichten wahrnehmen und in der Lage sind, über den Tellerrand zu sehen und sich für die sozialen Belange der Mehrheit der Bevölkerung einsetzen.

Quelle: www.dielinke-leer.de

10. März 2010 Posted by | Bildungspolitik, Die LINKE, Landkreis Leer, News, Niedersachsen, Ostfriesland, Politik | , , | 1 Kommentar

Heinrich Hannover: Nie wieder Krieg?

Wer schon zu den Zeitgenossen des Jahres 1945 gehörte, wird sich erinnern, dass damals der Spruch „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ in aller Munde war. Auch ich gehörte zu denen, die von beidem, vom Krieg wie vom Faschismus, die Nase gründlich voll hatten. Mit siebzehn Soldat in Hitlers Wehrmacht geworden, kehrte ich im Mai 1945 als Neunzehnjähriger in höchst armseligem Zustand zurück. In zerlumpter Uniform, mit einem russischen Granatsplitter im Rücken, einer russischen Gefangenschaft knapp entkommen, nach zwei Wochen im amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Eger, in dem man nur durch nächtliche Lebensmitteldiebstähle überleben konnte, war ich zusammen mit 50 weiteren deutschen Kriegsgefangenen nach zwölfstündiger Fahrt – auf einem offenen amerikanischen
Lastkraftwagen stehend – nachts in Kassel abgeladen worden. Im Kopf noch die überstandenen Todesängste der Fronteinsätze, die Erinnerung an gefallene Kameraden, die in ihrem kurzen Leben nie ein Gedicht von Heine
gelesen, nie eine Symphonie von Mendelssohn gehört und nie mit einer Frau geschlafen haben. Und die Sorge um das unbekannte Schicksal von Angehörigen in der Sowjetischen Besatzungszone, zu denen es weder Post- noch Telefonverbindung gab. Und im Bauch ganz animalischer Hunger. Erste Eindrücke von einer durch Bombenangriffe zerstörten Stadt. ErsteBegegnungen mit Menschen, die ebenso wie ich den Krieg mit viel Glück überlebt hatten und froh waren, dass die Hitlerei vorbei war. Erste Informationen über entsetzliche, zunächst kaum zu glaubende Verbrechen.
Ich gehörte zu denen, die sich von Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ und seinem Antikriegsmanifest „Dann gibt es nur eins! Sagt Nein!“ angesprochen fühlten. Da tat sich eine andere Welt auf, in der es auch viel Not gab, aber die frei war von den menschenfeindlichen Zwängen des Militärs und seiner Tötungsmaschinerie. Unvorstellbar, dass eine Generation, die den Krieg erlebt und überlebt hatte, bereit sein könnte, Politikern die Macht zu übertragen, sie in neue Kriege zu führen. Aber offenbar hatten längst nicht alle Überlebenden des Zweiten Weltkriegs sich so radikal
und nachhaltig von dem bis 1945 herrschenden Zeitgeist verabschiedet, wie es den damals 19-jährigen möglich war. Als die Westdeutschen ihren ersten Bundestag wählen durften, votierte die Mehrheit für einen Kanzler, der schon bald dafür sorgte, dass wir für den nächsten Krieg gerüstet waren. Und alle, die sich weigerten, die Ausbildung zum Töten mitzumachen, wurden in den zur Prüfung ihrer Gewissensgründe berufenen Gremien mit dem primitiven Denken der Militärfreunde konfrontiert, die nichts aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges gelernt hatten.

Oft genug habe ich erlebt, wie das Bekenntnis zum Pazifismus von Leuten belächelt wurde, die den jungen Kriegsdienstverweigerern allen Ernstes entgegenhielten, dass sie doch sicher von der Waffe Gebrauch machen
würden, wenn sie beim Spaziergang im Bürgerpark überfallen würden oderwenn es gelte, die Freundin zu schützen. Als wir jungen Soldaten auf andere junge Soldaten geschossen und über einen brennenden russischen Panzer gejubelt haben, in dem Menschen lebendigen Leibes verbrannten, waren wir keine Spaziergänger im Park und haben keine Freundin beschützt, sondern waren von der Kriegspropaganda der Nazis benebelte, schießgeile Krieger, die erst viel später angefangen haben, darüber nachzudenken, was sie da getan hatten. Und ich bin einer von denen, die nachdenklich geblieben sind, wenn wieder Parolen von Verteidigung der Freiheit und anderen hehren Rechtsgütern verkündet werden, für die man in anderen Ländern Menschen töten und Häuser, Fabriken, Brücken, Fernsehsender
und Tanklastwagen zerstören müsse.

Aus der Schule habe ich noch die kriegerischen Verse im Ohr, die Altmeister Goethe in seinem „Faust“ einen biederen Bürger sprechen lässt:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.“

Die Zeiten sind vorbei, in denen Krieg etwas war, was in fernen Ländern stattfand. Wer die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen hat, weiß, dass der Krieg, den man fern der Heimat anzettelt, ins eigene Land
zurückkommen kann. Als der Angriffskrieg im Osten begann, hatte die übergroße Mehrheit der Deutschen noch Hitlers Ankündigung verinnerlicht, dass es die Aufgabe ihrer Generation sei – ich zitiere aus „Mein Kampf“ –, „dem deutschen Volk den ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“. Und dass dieser Grund und Boden in Russland und dessen Randstaaten zu holen sei, konnte man auch schon in diesem von Hass und Größenwahn diktierten Buch lesen. Aber Hitler war nicht allein, als seine verbrecherischen Pläne in die Tat umgesetzt wurden. Der zur Vergrößerung des deutschen Staatsgebiets begonnene Angriffskrieg, der Deutschland letztlich nicht größer, sondern kleiner gemacht hat, wäre nicht ohne Generäle möglich gewesen, deren Weisheit nicht ausreichte, das Ende vorauszusehen. Selbst wir Landser machten Witze über den von Hitler zum Reichsmarschall beförderten Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, der Meier heißen wollte, wenn feindliche Flugzeuge es schaffen würden, deutsche Städte zu bombardieren. Aber die große Mehrheit der von den Naziparolen verführten Mitläufergeneration war überrascht und empört, als der in ferne Länder getragene Krieg wirklich zurückkam und auch über deutsche Familien viel Leid
brachte und mit zerbombten Städten und dem Verlust deutschen Landes endete. Die Menschen hatten blindlings auf das Verantwortungsbewusstsein und den militärischen Sachverstand von Leuten vertraut, die Politik und Soldatenhandwerk beruflich ausüben. Und sie hatten unter ständiger Berieselung mit der Freund-Feind-Propaganda der Nazis schnell vergessen, dass der als Terror bezeichneten Bombardierung deutscher Städte die Zerstörung von Warschau, Rotterdam und Coventry vorangegangen war. Auch was deutschen Menschen widerfuhr, als die Rote Armee ins deutscheReichsgebiet vorrückte, wurde als Terror ohne Vorgeschichte angeklagt und erlebt.

Ich hebe noch einen Tagesbefehl des Kommandierenden Generals unseres Panzerkorps vom 20. April 1945, dem letzten Geburtstag des so genannten Führers, auf, einen Schreibmaschinendurchschlag auf hauchdünnem
Papier, allen Soldaten des Bataillons bekanntzugeben: „Morgen tretet Ihr erneut zum Angriff gegen den Bolschewisten an, der, wenn auch unter sehr hohen Verlusten, wieder in unsere deutsche Heimat einbrechen konnte… Von jedem Einzelnen von Euch hängt es ab, ob die vormarschierenden Feindhorden zum Stehen gebracht werden. In Eurer Hand liegt das Schicksal von Millionen deutscher Frauen und Kinder.“ So sieht der argumentative Teufelskreis der Militärfreunde aus. Was da fehlt, ist nur die Erkenntnis, dass sie die Situation, in der sie den Terror der anderen beklagen, selbst herbeigeführt haben. Und dann appellieren sie an die Bereitschaft junger Menschen, ihr Leben für einen Krieg einzusetzen, der nicht zu gewinnen ist und der nie hätte begonnen werden dürfen. Hauptsache, die Rechnung derer stimmt, für die Kriege ein profitables Geschäft sind.

Es hat auch in Deutschland Menschen gegeben, die schon vor 1933 gewarnt haben: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Einen von ihnen, den auch bei politischen Gegnern hochgeachteten kommunistischen Bürgerschaftsabgeordneten
Willi Meyer-Buer, habe ich 1963 vor dem Landgericht Bremen verteidigen müssen gegen die von einem ehemaligen Nazistaatsanwalt unterschriebene Anklage, er habe gegen das KPD-Verbot verstoßen, indem er sich öffentlich dazu bekannt hatte, Kommunist geblieben zu sein. Meyer-Buer war einer der relativ wenigen Kommunisten, die das große
Morden des NS-Staates überlebt hatten. Er hatte als Widerstandskämpfer gegen die Hitler-Bande jahrelange KZ- und Zuchthaushaft erlitten und nach dem Krieg beim Wiederaufbau demokratischer Staatlichkeit allgemein anerkannte Arbeit geleistet. Aber nach der erneuten Machtübernahme des alten Personals in Staatsgewalt und Wirtschaft gehörten er und seine Genossen zu den ersten Opfern der von alten Nazis dominierten politischen Justiz der Adenauer-Ära. Denn er und seine Genossen waren wieder die engagiertesten Sprecher der unerwünschten Minderheit, die gegen die
Remilitarisierung opponierten und die Verwicklung in neue Kriege voraussagten. Kommunisten wurden wieder zu Kriminellen gestempelt. Und im öffentlichen Bewusstsein wurde die Erinnerung getilgt, dass es Kommunisten
waren, die im Widerstand gegen die Nazis und deren Kriegsvorbereitung die größten Opfer gebracht haben.
Eine Rehabilitierung der westdeutschen Justizopfer des kalten Krieges ist nie erfolgt, obwohl wir zwischenzeitlich einen der SPD angehörenden Bundeskanzler hatten, der aus eigener Anwaltserfahrung wusste oder wissen konnte, dass nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik Justizunrecht verübt worden ist. Ich habe Herrn Schröder vergeblich daranerinnert. Auch die Rehabilitierung der von der Nazi-Justiz verurteilten Deserteure, die den Mut gehabt hatten, sich Hitlers Krieg zu verweigern, hat Jahrzehnte auf sich warten lassen und ist für die meisten zu spät gekommen. Einer von ihnen ist der damals zum Tode verurteilte Ludwig Baumann,der nicht müde geworden ist, gegen dieses gesetzliche Unrecht zukämpfen.

Auch in unserer Zeit geben die Kriegsanstifter den Ton an und beherrschen über ihre Medien die hohlen Köpfe ihrer Mitläufer. Nach der Implosion des Sowjetimperiums haben sie flink ein neues Feindbild erfunden, den Terrorismus – natürlich den in aller Welt fluktuierenden Terrorismus, nicht etwa den eigenen. Wer überrascht war, dass am 11.September 2001 zwei Türme in Manhattan, die wirtschaftliche Weltmacht symbolisierten, zum Objekt
eines Terroranschlags wurden, musste vergessen haben, dass diesem Anschlag unzählige amerikanische Angriffskriege und Attentate vorangegangen waren, mit denen bestimmte Teile der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten provoziert worden sind und weiterhin provoziert werden. Selbstverständlich immer im Zeichen von Freiheit und Demokratie. Wer Informationsbedarf hat, findet bei Google 22.800 Ergebnisse zu „amerikanischerStaatsterrorismus“, 37.700 zu „amerikanische Angriffskriege“ und 13.700.000 zu „USA terror list“.

Und wieder sind deutsche Soldaten in einen Krieg fern der Heimat involviert und ziehen die Gefahr auf ihr Land, dass der Krieg auch vor unserer Haustür stattfinden könnte. Es sind wohl noch nicht genug Särge zurückgekommen,
um die Frage, wofür unsere Soldaten dort töten und sterben müssen, in einen neuen Massenkonsens „Nie wieder Krieg!“ zu verwandeln. Schon nachdem die USA Anfang der 1990er Jahre unter Präsident Bush sen. den ersten Angriffskrieg gegen den Irak geführt hatten, zeichnete sichin meinen Augen ab und ich schrieb es in meinen Memoiren („Die Republik
vor Gericht 1954 – 1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts“): „Vielleicht war es eine der letzten Möglichkeiten, einen solchen Hinrichtungskrieg gegen einen hoffnungslos unterlegenen Gegner ohne die geringste Gefährdung der eigenen Bevölkerung zu führen. Wie lange wirdes noch möglich sein, die weitere Verbreitung der Atomwaffen zu verhindern? Und auch die neue Kampfform kleiner Völker, sich gegen die Übermacht des Stärkeren durch Geiselnahmen und Terrorkommandos im Hinterland des Feindes zu wehren, scheint an Boden zu gewinnen. Spätestens dann, wenn deutsche Banken von Selbstmordkommandos gesprengt werden, wird man wohl auch bei uns begreifen, dass die Einmischung in Kriege, die irgendwo in der Welt vom Zaun gebrochen werden, nicht ohne Ge-
fährdung des eigenen Wohlstands abgehen muss.“ Als ich das schrieb, standen die Twin Towers noch. Was ich nicht vorausgesehen habe, war, dass es amerikanische und nicht deutsche Machtsymbole treffen würde; aber das kann ja noch kommen. Auch am Hindukush kann man die Freiheit nicht straflos verteidigen.

Welche enorme Veränderung des kollektiven Bewusstseins seit 1945 stattgefunden hat, kann wohl nur empfinden, wer das Damals erlebt hat. Längst ist die militärische Dressur zum Töten und die Austreibung des Gewissens wieder als Staatsbürgerpflicht akzeptiert. Längst ist vergessen, dass in Artikel 26 des Grundgesetzes Handlungen, die geeignet sind, die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, als verfassungswidrig zu bestrafen sind. Um nicht Leute wie Gerhard Schröder und Joseph Fischer wegen des Angriffskriegs gegen Jugoslawien anklagen zu müssen, flüchtete
die amtierende Generalbundesanwältin zu der rabulistischen Gesetzesinterpretation, es sei ja nur die Vorbereitung, nicht aber die Führung eines Angriffskrieges verboten. Und sie amtiert tatsächlich noch immer. Einer der letzten Schritte auf diesem Entwicklungsweg war die Änderung des Sprachgebrauchs unserer Verteidigungsminister. Während der vorletzte sich noch scheute, vom Krieg in Afghanistan zu sprechen, erntet der neue Lob für sein Bekenntnis, dass wir uns bereits im Krieg befinden. Wie gut, wird mancher brave Bürger denken, dass wir diesmal nicht zu befürchten
haben, dass deutsche Städte bombardiert und deutsches Land besetzt wird, weil der Krieg fern in Afghanistan stattfindet. Aber wie erstaunt und empört würde mancher die verschlafenen Augen öffnen, wenn der leichtfertig
provozierte Gegenterror uns in Form von Anschlägen nach dem Muster der Nine-eleven-Attacke im eigenen Land heimsuchen sollte. Freilich höre ich für diesen Fall schon den Chor der Militärfreunde, dass die Terroranschläge aus heiterem Himmel gekommen seien und bewiesen, wie nötig es sei, den Terrorismus in aller Welt mit Waffengewalt zu bekämpfen. Und sie könnten sicher mit Volksvertretern rechnen, die noch mehr Volksvermögen für die Finanzierung von Kriegen bewilligen und noch mehr Soldaten in ferne Länder schicken würden. Der Teufelskreis des militärischen Gewaltdenkens beherrscht wieder das kollektive Bewusstsein, und die Konzerne verdienenan Rüstung, Zerstörung und Wiederaufbau Milliarden.

Aber wie lange noch?

In Kriegen wird regelmäßig das Recht des Stärkeren praktiziert. So hinterließen die Bomben auf Jugoslawien ein zerstörtes Land, ohne dass den Angreifern auch nur ein Haar gekrümmt wurde. Aber wo sich die Aggressoren auf den Bodenkampf einließen, siegten doch mitunter die waffentechnisch weit unterlegenen Völker. Dass auch der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist, wissen außer den verantwortlichen Politikern und ihren Mitläufern wohl alle unabhängig denkenden Menschen. Und verlorene Kriege haben ihr Gutes. Sie lassen die Menschen über die Ursachen von Kriegen nachdenken. Nach den beiden verlorenen Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts hat es lichte Momente des öffentlichen Bewusstseins gegeben, in denen selbst gemäßigt konservative Kreise die Zusammenhänge
zwischen dem kapitalistischen Herrschaftssystem und der Entstehung von Kriegen erkannt und ausgesprochen haben.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Chance, dieses Herrschaftssystem durch eine freiheitliche sozialistische
Gesellschaftsordnung abzulösen, wie sie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vorschwebte, nur um ein Haar versäumt worden, wie man in Sebastian Haffners Buch über die verratene Revolution von 1918/19 lesen kann. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, diese charismatischen Friedenskämpfer der deutschen Arbeiterbewegung, die am 15. Januar 1919
von reaktionären Reichwehroffizieren im Einvernehmen mit der damaligen SPD-Führung ermordet wurden, hätten mit Sicherheit einem anderen Sozialismus als dem von Stalin und seinen Anbetern realisierten den Weg bereitet.

Und nach dem Zweiten Weltkrieg reichte die Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem bekanntlich bis ins Ahlener Parteiprogramm der CDU, wo eine soziale und wirtschaftliche Neuordnung gefordert wurde, deren Inhalt und Ziel nicht mehr „das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“sein könne. Doch diese Entwicklung wurde schon in ihren Anfängen erstickt, als der kalte Krieg die antikommunistische Feldzugsbereitschaft der Nazizeit wieder auferstehen ließ und deren Exponenten wieder in Machtpositionenin Staat und Wirtschaft katapultierte.

Ein weiterer verlorener Krieg gab dem Widerstand gegen das kapitalistische System erneut Auftrieb, als unter dem Eindruck der Kriegsverbrechen und der Niederlage der amerikanischen Interventionstruppen in Vietnam die sozialrevolutionäre Bewegung der 1960er Jahre entstand. Vielleicht könnte das Desaster, mit dem die Kriege im Irak und in Afghanistan aller Voraussicht nach enden werden, selbst dann, wenn uns der Gegenterror vor der eigenen Haustür erspart bleiben sollte, auch in unserem Land zum erneuten Nachdenken über die Kriegsträchtigkeit des kapitalistischen Systems und zum Widerstand gegen die herrschende Militärdoktrin führen.

Unsere Aufgabe ist es, den Widerspruch gegen den herrschenden Zeitgeist und das Nachdenken über die Ursachen von Kriegen und deren Abschaffung wachzuhalten.

Aus: „Ossietzky“, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft, Heft
1/2010

8. Februar 2010 Posted by | Afghanistan, AFPAK, Antimilitarismus, Krieg, News, Politik | , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Wehrbeauftragter: Robbe wird sein Amt aufgeben müssen

Wehrbeauftragter Robbe wird sein Amt verlieren

Reinhold Robbe, SPD-Politiker aus Bunde, wird nach Ablauf der Wahlperiode im April sein Amt als Wehrbeauftragter des Bundestages an die FDP-Abgeordnete Hoff abgeben müssen.
Was wird aus Robbe? Wir erinnern uns an den Februar 2004, als der Seeheimer Robbe der Nordwest-Zeitung ein Interview gab, in dem er Folgendes sagte:
„Wir müssen sehen, dass alle Verantwortlichen endlich in die Hufe kommen. Das Ausland läuft uns davon. Deshalb reden die Sozialpartner doch über flexible Arbeitszeitkonten, weniger Gehalt und weniger Urlaub. Von notwendigen Veränderungen kann niemand ausgenommen bleiben – auch die Manager nicht. Jeder in unserem Wirtschaftssystem muss sich Gedanken machen, wie kann auch ich dazu beitragen, das Land wieder  nach vorn zu bringen – mit gesundem Patriotismus.“
Robbe verteidigte damit die von der rot-grünen Regierung begonnene Umverteilung von unten nach oben nach dem Motto: Wir müssen alles dafür tun, damit die deutschen Kapitalisten ordentlich Profite machen und auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind, dafür müssen aber die diejenigen, welche die Werte schaffen, die Lohnabhängigen, auf Lohn bzw. Gehalt und Urlaub verzichten sowie mehr arbeiten. So einfach stellt sich der Sozialdemokrat Robbe ein „funktionierendes Wirtschaftssystem“ vor. Der Aufschrei bei den Gewerkschaften war 2004 natürlich groß und selbst Robbes Parteifreunde in Ostfriesland stärkten ihm nicht den Rücken.
2005 wurde der ehemalige Kriegsdienstverweigerer Robbe Wehrbeauftragter. Seit er in den Bundestag gewählt wurde, entwickelte sich Robbe zum Militaristen, der jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr im Bundestag zustimmte. Als die Bundeswehr sich am Krieg gegen Jugoslawien beteiligte und der damalige Verteidigungsminister Scharping dies mit falschen Behauptungen begründete, sprang ihm Robbe zur Seite. Er diffamierte damals Gregor Gysi, der während des Krieges in Jugoslawien Friedensverhandlungen führte, als Vaterlandsverräter.
Seinen letzten großen Auftritt hatte Robbe Anfang Januar, als er im Spiegel die Äußerungen von Bischöfin Käßmann zum Afghanistan-Einsatz als unverantwortlich bezeichnete. Käßmann übe populistsische Fundamentalkritik, ohne sich jemals persönlich ein Bild vor Ort verschafft zu haben und vermittle Tausenden von gläubigen Soldaten das Gefühl, in Afghanistan gegen Gottes Gebote zu handeln. Robbe führte aus, es sei naiv, in Afghanistan mit „Gebeten und Kerzen“ Frieden schaffen zu wollen wie vor 20 Jahren die DDR-Opposition. Naiv ist nicht Käßmann, sondern Robbe, der immer noch nicht verstanden, dass man diesen Krieg nicht gewinnen kann. Wer Soldaten in diesen Krieg schickt, um „unsere Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen“ (Ex-Verteidigungsminister Struck, SPD), sollte nicht vorgeben, dass es darum geht den AfghanInnen Demokratie und Freiheit zu bringen, sondern klar sagen, dass dieser Krieg in erster Linie aus geostrategischen Gründen erfolgt. „Wir kämpfen in Afghanistan gegen einen nationalen, antiwestlichen Aufstand. Afghanistan ist geostrategisch interessant, weil man dort Russland, Indien, Pakistan und China kontrollieren kann. Auch rohstoffpolitisch ist das ein fabelhafter Standort. Schließlich wollen die Amerikaner eine Ergaspipeline durch Afghanistan bauen.“ (J. Todenhöfer, CDU,  Spiegel, 29.06.09)
Ab 2010 (dem Agendajahr der SPD) steht Robbe seiner Partei wieder zur Verfügung. Wir können jetzt schon prognostizieren, dass er sich auf die Seite der Betonköpfe und Schröderianer stellen wird, denn „Agenda 2010 musste sein“ und wenn die schwarz-gelbe Regierung die Schrödersche „Reform“politik auf dem Rücken der Arbeiterinnen und Arbeiter, der Angestellten, der RentnerInnen  und der sozial Schwachen weiterführt, wird Reinhold Robbe applaudieren und sagen können: „Richtig so. Was Ihr da durchzieht,  habe ich 2004 schon vorgeschlagen.“
Die SPD sollte, will sie sich doch auch programmatisch erneuern, Robbe  ausbremsen, bevor er weiteren politischen Flurschaden in Ostfriesland anrichtet.

(TK)

Quelle: www.dielinke-leer.de

5. Februar 2010 Posted by | Bundeswehr, CDU/FDP, Die LINKE, News, Politik, SPD | , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Krise der LINKEN nach Lafontaine?

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Geschrieben von Redaktion Der Funke
Sunday, 31 January 2010
Was wird aus der LINKEN nach Lafontaine? Diese bange Frage stellen in diesen Tagen viele Mitglieder und Anhänger der Partei. Bürgerliche Medien, denen Oskar Lafontaine nicht geheuer war und die an ihm kein gutes Haar ließen, freuen sich insgeheim über seine Ankündigung, Mitte Mai nicht mehr für den Posten eines Parteivorsitzenden zu kandidieren und sein Bundestagsmandat abzugeben. Der „SPD-Linke“ und Hartz IV-Befürworter Niels Annen hält nach Lafontaines Rückzug aus Berlin sogar ein „rot-rot-grünes“ Bündnis auf Bundesebene für möglich.

Als Franz Müntefering (SPD) 2007 wegen des Krebsleidens seiner Frau aus dem Bundeskabinett ausschied, zeigte alle Welt Verständnis und Anteilnahme. So viel Mitgefühl wird Oskar Lafontaine jetzt nicht zuteil, wenn er wegen seines eigenen Krebsleidens kürzer treten will. Immerhin möchte er so intensiv wie möglich in den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen eingreifen und sich auch weiterhin zur Bundespolitik zu Wort melden. Wir wünschen Oskar an dieser Stelle noch einmal eine vollständige Genesung und viel Kraft für die kommenden Jahre.

Oskar Latontaine war wegen seines Werdegangs bei der Bildung der Partei DIE LINKE für viele ein entscheidender Bezugspunkt und hat insofern eine historische Rolle beim Zustandekommen einer starken deutschen Partei links von der SPD gespielt. 1999 war er als Bundesfinanzminister aus der neuen SPD-Grüne-Regierung und als Bundesvorsitzender der SPD zurückgetreten, weil er den neoliberalen Kurs von Kanzler Schröder und die Beteiligung am Angriffskrieg gegen Jugoslawien nicht mittragen konnte. Damit war er konsequent und hob sich wohltuend von vielen OpportunistInnen ab, die an ihren Posten klebten und sich anpassten. Als er sich 2005 endlich für den Antritt einer gemeinsamen Linken aus PDS und WASG engagierte, war dies ein entscheidendes Signal für viele langjährige Sozialdemokraten. Die von ihm vertretenen Inhalte waren mit entscheidend für die Erfolge der LINKEN in der Bundestagswahl und in der Landtagswahl im Saarland 2009.

„Der Oskar ist kein Marxist, aber er hat mehr Klassenbewusstsein als viele andere“, brachte es ein Veteran der Bewegung kürzlich auf den Punkt. In der Tat zeigte Oskar Lafontaine gerade auch in den letzten Jahren ein Gespür für entscheidende politische Themen. Bei Fragen wie Hartz IV, Mindestlohn, Rente 67 und Raus aus Afghanistan steht er für klares Profil und gegen eine Verwässerung der Positionen um den Preis der vermeintlichen „Regierungsfähigkeit“. In den letzte Monaten hat er auch den Koalitionsvertrag in Brandenburg kritisiert. Im Sommer 2008 forderte er die Enteignung der Milliardärin Schaeffler, als diese den Continental-Konzern übernehmen wollte. Damit sprach er – im Gegensatz zu vielen anderen in Parteivorstand und Fraktion – Klartext.

Wenn die Herrschenden und ihre Medien Lafontaine als „Populisten“ bezeichnen, dann steckt dahinter das Misstrauen gegenüber einem Politiker, der sich im Gegensatz zur SPD-Führungsriege nicht kaufen lässt, der seinen eigenen Kopf hat und sich auch auf seine alten Tage nicht anpasst, sondern tendenziell radikaler wird. Wenn die Medien zwischen den „guten“ und „modernen“ Reformern in der Linkspartei und den radikalen „Fundamentalisten“ und „Sektierern“ unterscheiden, dann wollen sie damit den Anpassungsdruck so weit erhöhen, dass sich die LINKE nach rechts anpasst und über kurz oder lang problemlos in einer Koalition unter SPD-Führung unterordnet, falls es denn nicht anders ginge.

Nach dem Rückzug Lafontaines erhoffen sie sich dafür bessere Chancen. Für eine Linkspartei, die in einer Regierung Sozialabbau betreibt und Kriege unterstützt, besteht allerdings kein Bedarf. Dies hat Oskar Lafontaine mit eigenen Worten in den letzten Tagen deutlich gemacht:

„Einfache Gemüter kleiden diese Überzeugung in die Formel: Opposition ist Mist. Dass auch Regierung Mist sein kann, hat die SPD bei den letzten Wahlen schmerzlich erfahren. Sie enttäuschte in der großen Koalition ihre Anhängerinnen und Anhänger erneut mit Mehrwertsteuererhöhung und Rente mit 67 und wurde dafür abgestraft. Ähnlich erging es unserer Schwesterpartei, der „Rifondazione Comunista“ in Italien, die entgegen ihren Wahlversprechen in der Regierung die Kriegsbeteiligung Italiens in Afghanistan und die Kürzung sozialer Leistungen befürwortete. Heute ist sie nicht mehr im Parlament vertreten. Ebenso hat eine der beiden Vorläuferparteien der Linken, die PDS, leider mit Regierungsbeteiligungen nicht die besten Erfahrungen gemacht.“ Solche Aussagen dürften auch einigen in der eigenen Partei aufstoßen.

Dabei sind die politischen Differenzen, die nun verstärkt über Personalfragen diskutiert und ausgetragen werden, kein Ost-West-Konflikt. Der Osten ist dem Westen nur insofern etwas voraus, als eine starke Partei in Parlamenten auch unter starkem Anpassungsdruck steht.

Alle Kräfte auf die NRW-Wahl konzentrieren

Dass die Herrschenden und ihre Meinungsmacher jetzt verstärkt DIE LINKE klein und kaputt reden und schreiben wollen, hat mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der bevorstehenden Wahl am 9. Mai in Nordrhein-Westfalen (NRW) zu tun. In NRW geht es für alle um sehr viel. Für CDU und FDP um die Verteidigung ihrer Mehrheit im Land und im Bundesrat. Für die SPD um die erhoffte Wiederauferstehung in ihrem einstigen Stammland. Für die NRW-LINKE mit ihrem antikapitalistischen Programm um ein Ergebnis deutlich über den psychologisch entscheidenden fünf Prozent. Für arbeitende und arbeitslose Menschen um eine wichtige Weichenstellung und die Frage, wer für die Lasten und Kosten der Krise aufkommen soll. Darum muss die ganze Partei bundesweit ihre Kräfte in den Wahlkampf in NRW stecken und mit für ein gutes Ergebnis kämpfen. Das Potenzial dafür ist vorhanden. Durch den Wahlkampf können wir die Partei in NRW und darüber hinaus stärken und sozialistische Ideen weiter verankern. Immerhin hat NRW inzwischen mehr Einwohner als die frühere DDR.

Der Rückzug von Oskar Lafontaine aus der Bundespolitik macht deutlich: Pesonen sind wichtig und können entscheidende Impulse geben, aber Inhalte sind entscheidend, vor allem der Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft. Niemand darf unersetzlich sein.

Jetzt kommt es nicht so sehr auf ein Personaltableau mit genau austariertem Proporz an, sondern auf ein verstärktes Einmischen der Basis. Die Mitglieder, die sich in Stadt und Land ehrenamtlich für den Parteiaufbau einsetzen und aufopfern, müssen sich viel mehr zu Wort melden, eine bessere Kontrolle verlangen und mehr Initiativen von unten ergreifen. Das fängt jetzt an, etwa mit vielen inhaltlichen Anträgen an den Bundesparteitag, die sich dem Anpassungsdruck entgegenstemmen.

Dass es in der Frage „Regierung oder Opposition“ auch anders geht, zeigen wir in unserem Beitrag auf:
Wie soll sich die Linke Hessen gegenüber der SPD verhalten? Mitregieren, Tolerieren oder Opponieren?

1. Februar 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, Politik, Sozialismus, SPD | , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Der Fall Schlecker – Ausbeutung mit System

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Geschrieben von Redaktion Der Funke
Anton Schlecker ist der verhassteste Unternehmer der Republik. Noch vor Kurzem hätte er sich so viele Negativ- schlagzeilen und Kritik nicht träumen lassen. Hals über Kopf hat er seine Leiharbeitsfirma Meniar in Zwickau geschlossen und ihren Internetauftritt gekappt.

Dass der in Verruf gekommene Schlecker gelobte, ab sofort für seine XL-Märkte keine Leiharbeiter mehr über Meniar anzuheuern, ist Folge des massiven Drucks, den mutige Verkäuferinnen, Betriebsräte und ihre Gewerkschaft ver.di seit einem Jahr aufgebaut haben. Mit beharrlichem Einsatz erreichten sie eine Solidarisierung und ein öffentliches Echo, dem sich auch konservative Medien und Arbeitsministerin Ursula von der Leyen nicht entziehen konnten. Wo der Widerstand wuchs, wurden Kündigungen verhindert. Schleckers ruiniertes Ansehen ließ offenbar auch die Umsätze in den XL-Märkten spürbar einbrechen.

ver.di hat nun alle Hände voll zu tun und spürt erste Wirkungen jahrelangen Engagements. So haben viele Verkäuferinnen erkannt, dass sie auf sich gestellt verloren sind und in bisher „betriebsratsfreien Zonen“ Interessenvertretungen aufbauen müssen. Nicht zufällig ist binnen eines Jahres die Zahl der regionalen Betriebsratsgremien im Konzern bundesweit von 120 auf 160 angewachsen.

Schleckers Angriffe haben inzwischen offenbar so viele Betroffene wach gerüttelt, dass allein 2009 über 1000 Schlecker-Beschäftigte in die Gewerkschaft ver.di eingetreten seien – Tendenz steigend. Das „brutale Vorgehen“ Schleckers mit Kündigungsbriefen und dem „Reinpressen“ in Meniar habe den Zulauf beschleunigt, so ein Sprecher von ver.di. In einigen Regionen sind mittlerweile fast alle Beschäftigten in ver.di organisiert.

All dies zeigt: Gewerkschaften können auch unter Schwarz-Gelb etwas anstoßen, und zwar nicht durch höfliche Diplomatie mit der Politik, sondern durch Mobilisierung und Bündnisarbeit. Nun könnten sich auch in bisher „betriebsratsfreien“ Schlecker-Regionen Betriebsräte bilden. Viele Verkäuferinnen fürchten jedoch weiter um ihre Existenz.

Dass die Sorgen der Verkäuferinnen berechtigt sind, zeigen aktuelle Ankündigungen Schleckers. „Wir müssen unser gesamtes Geschäftsmodell umwälzen“, so der Konzernchef, der in diesem Jahr weitere 500 Filialen schließen will. Ver.di geht davon aus, dass diese Zahl noch untertrieben ist.

Der Schlecker-Skandal hat die Spaltung im Arbeitgeberlager gefördert. „Schlecker hat es geschafft, unsere Branche in ein schlechtes Licht zu rücken“, klagt Ludger Hinsen vom Bundesverband für Zeitarbeit (BZA). Er blicke „mit Sorge darauf, was der Politik dazu einfällt“, kommentierte er die neu aufgeflammte Diskussionen über strengere Regeln.

Hinsen weiß, dass Zustände wie bei Schlecker/Meniar kein Einzelfall sind und auch bei anderen Handels- und Industriebetrieben zum Alltag gehören. Seine Sorgen um die Zukunft einer weitgehend überflüssigen Branche sollten für die Gewerkschaften Ansporn sein, um die Dynamik der Schlecker-Kampagne weiter zu treiben. Für die LINKE, Gewerkschaften und Betriebsräte sollte dies ein Ansporn sein, um über die Forderung nach strengeren Regeln und Aufhebung der 2003 beschlossenen Liberalisierung der „Arbeitnehmerüberlassung“ hinaus das System der Leiharbeit generell in Frage zu stellen. Die Liberalisierung hat Gewerkschaften und Betriebsräte geschwächt und einige Profiteure reich gemacht.

LINKE-Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann hat am Donnerstag im Bundestag die Frage aufgeworfen, wozu angesichts zunehmender Flexibilität in der Arbeitswelt und der Möglichkeit befristeter Arbeitsverträge Leiharbeit überhaupt notwendig ist. In diesem Sinne hat sich jetzt auch DIE LINKE Baden-Württemberg für ein klares Verbot der Leiharbeit ausgesprochen. Leiharbeit ist eine moderne Form der Sklaverei und überflüssig. Sie lässt sich auch mit noch so vielen Stellschrauben nicht wirklich humanisieren. Ein Verbot wäre ein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN, da SPD und Grüne, die 2003 mit der Liberalisierung solche Zustände möglich gemacht haben, die Leiharbeit nur erträglicher machen wollen, ohne sie ganz in Frage zu stellen.

Ob Hartz-Gesetze, Ein-Euro- oder Minijobs oder Leih- und Zeitarbeit: sie alle haben dazu beigetragen, dass die Rechte der Arbeitnehmer geschwächt wurden. Gewerkschaften sind in ihrer Handlungsfähigkeit gewaltig eingeschränkt worden. Junge Menschen erhalten heute so gut wie keinen Arbeitsplatz, ohne durch die Zeit- und Leiharbeit gejagt zu werden. Wer einen Leiharbeitsvertrag besitzt, hat Schwierigkeiten, bei der Bank einen Kredit zu erhalten oder eine Wohnung zu mieten. Die Gründung einer eigenen Familie wird so erheblich erschwert. Da das Geld in der Regel nicht reicht, werden Zweit- und Drittjobs angenommen. An ein normales gesellschaftliches Leben ist nicht zu denken. Das Überleben steht im Mittelpunkt. Vom kulturellen Leben sind diese Beschäftigten ausgeklammert.
Zeitarbeit/Leiharbeit wirkt disziplinierend auf Belegschaften und erschwert die Arbeit der Betriebsräte. Beschäftigten wird systematisch vor Augen geführt was passieren kann, wenn man heute einen neuen Job haben will. Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und die Aussichten bei einer Leihfirma zu enden, sorgt für eine selbstauferlegte Ruhe im Betrieb. Diese Politik der Unternehmer bietet Anreize für ein weiteres Absenken der Löhne und Gehälter. Durch Einsparungen beim Personal wird der Druck auf die Beschäftigten erhöht und der Profit zusätzlich gesteigert.

Durch den Vorstoß der Linksfraktion war Schlecker im November erstmals Thema einer Anfrage im Bundestag und die Leiharbeit generell Gegenstand einer zweistündigen Bundestagsdebatte am Donnerstag, 29. Januar 2010. Lassen wir nicht locker und bauen eine breite Widerstandsfront gegen Leih- und Zeitarbeit auf. Schlecker ist überall.

31. Januar 2010 Posted by | Deutschland, Die LINKE, Gewerkschaften, News, Politik | , , | 1 Kommentar