Blinkfuer

Linkes Blog aus Ostfriesland

Agenda 2010: Zunehmende Polarisierung


Hintergrund. Agenda 2010 – Im Jahr der Offenbarung

Von Christian Christen

Im kommenden März ist es sieben Jahre her, daß der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Regierungserklärung »Agenda 2010 – zum Frieden und Mut zur Erneuerung« die sozial- und wirtschaftspolitischen Leitlinien seiner zweiten Amtszeit präsentierte. Profitierte die erste Bundesregierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab 1998 bis 2001 noch von der hohen Exportnachfrage und einem daraus resultierenden Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen der produzierenden Wirtschaft, in deren Folge die ausgewiesene Zahl der Arbeitslosen stetig sank und die Steuereinnahmen wie Einnahmen der Sozialversicherungen stiegen, änderte sich 2002 die Situation grundlegend. Weitgehend konzeptionslos nahm »Rot-Grün« Ende 2001 den Konjunktureinbruch zur Kenntnis, und es wurde offenkundig, daß ein progressives wirtschafts- und sozialpolitisches Projekt dieser Koalition nie existierte. Statt dessen fabulierte man lange Zeit vom stetigen, inflationsfreien und stabilen Wachstum einer »New Economy«-Ära. Nach dem Platzen der Träume im Finanzcrash um die »Dot com«-Aktien stieg Anfang 2002 die Zahl der registrierten Arbeitslosen schnell auf über vier Millionen, und wie 1998 fehlten mehr als sieben Millionen Arbeitsplätze, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Logischerweise sanken im Abschwung die Einnahmen von Bund, Ländern, Kommunen und der Sozialversicherung, während die Ausgaben und Defizite wuchsen.

Vor diesem Hintergrund mahnte der Kanzler im März 2003 den politischen Aufbruch an und lieferte mit der Agenda 2010 seine Blaupause. Wie seit den 70er Jahren jede Regierung setzte auch »Rot-Grün« zur Überwindung der sozioökonomischen Krise primär auf die Exportwirtschaft, und dazu sollten die Kosten der Arbeit sinken, um in Kombination mit der hohen deutschen Produktivität auf den internationalen Märkten absolute wie relative Wettbewerbserfolge zu erzielen. Diese Strategie basierte stets auf der Reduktion der sogenannten Lohnnebenkosten, da ein frontaler Eingriff in die Tarifautonomie und somit die Primärverteilung zwischen Profit und Lohn politisch unmöglich war. Mit der Regierungserklärung machte sich Schröder nun vollends die These zu eigen, daß das Wirtschaftswachstum zu gering sei, weil der Arbeitsmarkt überreguliert, das Sozialnetz ineffizient und die »Lohnnebenkosten« zu hoch seien. Allenthalben müßten »verkrustete« Strukturen aufgebrochen werden, um Wettbewerb und Wachstumskräfte zu stärken, um Innovationen zu fördern und zukünftige Generationen zu entlasten, um signifikant weniger Arbeitslose und »wetterfeste« Sozialsysteme zu bekommen.

Für die damalige Regierung markierte diese Positionsbestimmung eine doppelte Wende: Zum einen hatte sie die Bundestagswahlen wenige Monate zuvor mit einer anderen Programmatik gewonnen. Die fehlende Legitimation der Agenda-Politik an der Wahlurne erklärt, warum bis zu den vorgezogenen Neuwahlen 2005 alle Reformen im Jargon des Notstands präsentiert und sogar mit breiter Unterstützung der Opposition (Ausnahme PDS) durchgesetzt wurden. Zum anderen manifestierte sich über die Agenda 2010 ein radikaler Kurswechsel in zentralen Politikfeldern der SPD, ohne offen und dezidiert vorher über Sinn und Inhalt zu diskutieren. Von dieser »Top down«-Strategie mit der zugehörigen »Basta-Ideologie« und dem späteren Abnicken der Reformen über alle Parteigremien hinweg hat sich die SPD seither nicht erholt.

Vom Stückwerk zum Konzept

Zumindest bei der SPD sind die Effekte der Agenda 2010 bei den folgenden Wahlen und der Mitgliederentwicklung klar abzulesen. Viel schwieriger ist aber die Bewertung der sozial- und wirtschaftspolitischen Folgen der im Namen dieses Konzepts durchgesetzten Reformen. Im Bereich der sozialen Sicherung bilden dabei die Arbeitsmarktreformen den Kern, die in der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« unter dem damaligen Volkswagen-Vorstandsmitglied Peter Hartz (SPD) formuliert und öffentlich als Hartz I bis IV bekannt wurden. Die von der Bertelsmann Stiftung moderierte und beeinflußte Hartz-Kommission tagte von Februar bis August 2002, so daß Hartz I (u. a. Ausweitung der befristeten Arbeit und der Leiharbeit, Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln, Ausbau der Personal-Serviceagenturen) und Hartz II (Ich-AG, Ausbau der Minijobs, Kombilohnmodelle für Ältere etc.) vor Schröders Regierungserklärung in Kraft getreten sind. Danach gab es Änderungen des Kündigungsschutzes, Hartz III (Umbau der Bundesanstalt der Arbeit und Veränderungen der Zuständigkeiten) und schließlich Hartz IV (Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II).

Ebenfalls vor März 2003 war über die Rentenreform 2001 die (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung und darüber der Systembruch in der Rentenpolitik der Nachkriegszeit durchgesetzt worden. Eingestielt über die später eingesetzte »Rürup-Kommission« setzte »Rot-Grün« dann die Rentenerhöhung 2004 aus, erhöhte die Altersgrenze der Frühverrentung und führte ab 2005 den Nachhaltigkeitsfaktor bei der Rentenberechnung ein. In Ergänzung zur Politik von 2001 sollten diese Anreize für den späteren Übergang in die Rente erhöht werden, was in der großen Koalition über die »Rente mit 67« institutionell verankert wurde.

Dritter Ansatzpunkt der Agenda 2010 war die Entwicklung der Gesundheitskosten, was die anschließenden Gesundheitsreformen erklärt. Es wurden u.a. das Sterbegeld, die Zahlungen der gesetzlichen Kassen für Brillen und Fahrten zur ambulanten Behandlung gestrichen und der Leistungsabbau mit der Forderung nach mehr Eigenleistung über die Einführung der Praxisgebühr (zehn Euro pro Quartal), der Zahlung von Krankenhausgeld (zehn Euro pro Tag) kombiniert. Ebenso wurde die Zuzahlung für Zahnersatz abgeschafft und der Eigenanteil an den Kosten für Arznei- und Heilmittel erhöht.

Die Gemeindefinanzreform gilt als vierter Bereich der Agenda 2010, wozu die eingesetzte Gemeindefinanzreformkommission im Sommer 2003 ihre Vorschläge präsentierte. Nach dem Einspruch der unionsgeführten Länder im Bundesrat wurden die Gesetze so modifiziert, daß es keine strukturelle Verbesserung der Einnahmesituation der Länder und Kommunen geben konnte. Abgelehnt wurden bei der Gewerbesteuerreform alle Vorschläge zur Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen und Erhöhung der Bemessungsgrundlage. Bei der Finanzierung von Hartz IV (vor allem bei den Kosten der Unterbringungen) stellten Bund und Länder den Kommunen keine signifikante Entlastung in Aussicht. Kontroversen zur Kostenübernahme und über die Zuständigkeit sind deshalb bis heute logische Konsequenz, ebenso blieben die Ursachen des strukturellen Defizits der kommunalen Haushalte bestehen.

Fünfter Bereich der Agenda 2010 sind die Steuerreformen, mit denen zum einen Maßnahmen der Gesetzgebung der SPD-Grünen-Regierung nach 1999 revidiert und »handwerkliche« Fehler ausgeglichen werden sollten. Zum anderen wurde die Entlastung hoher und höchster Einkommen sowie Vermögen und der Unternehmen fortgesetzt. Exemplarisch sank unter »Rot-Grün« der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent, und nie gab es einen ernsthaften Versuch, eine revidierte Vermögenssteuer zu konzipieren. Entgegen aller Logik wurden die Zinseinkünfte als eigenständige Einkommensart definiert und mit nur 25 Prozent besteuert.

Erwähnenswert ist auch das naive Vorhaben, Steuerhinterziehung durch die Kapitalflucht nachträglich zu legalisieren, um weitere Kapitalflucht zu verhindern: Wer bis Ende 2004 die aus seinem Fluchtkapital resultierenden Zinseinkünfte nach eigenem Ermessen deklariert und mit 25 Prozent versteuert, konnte ein Verfahren zur Steuerhinterziehung vermeiden. Finanziert wurden die Steuergeschenke primär durch Kürzungen an andere Stelle des Haushaltes und vor allem die Kürzung der Pendlerpauschale und Eigenheimzulage.

Neben diesen fünf Reformprojekten lassen sich die etwa 38 gesetzlichen Maßnahmen zur Liberalisierung und Deregulierung des nationalen Finanzmarktes der Logik der Agenda 2010 zuordnen. Euphorisiert von der Preisinflation an den Geld- und Kapitalmärkten seit Ende der 90er Jahre wollten SPD und Grüne unbedingt den »Finanzplatz Deutschland« fördern, was neben der »Riester- und Rürup-Rente« über das vierte Finanzmarktförderungsgesetz 2002 erfolgte. In Kontinuität der Politik unter Helmut Kohl (CDU) wurden darüber hinaus zahlreiche Regulierungen gelockert, die Konstruktion von und der Handel mit »Finanzinnovationen« erleichtert und die Aufsichtsstrukturen nicht adäquat aus- und aufgebaut. 2003 wurden konkret die Verbriefung von Krediten und der Handel mit diesen strukturierten Wertpapieren steuerlich begünstigt. Die Möglichkeiten für Hedgefonds wurden 2004 verbessert, unter der großen Koalition dann erneut 2005 Produktinnovationen und neue Vertriebswege gefördert und sogar noch 2008 die Private-Equity-Fonds begünstigt. Trotz der jüngsten Finanzkrise sind alle diese Reformen bis zum heutigen Tag in Kraft.

Konzeption aus dem Nichts?

Unzweifelhaft war Gerhard Schröder zu keiner Zeit in der Lage, die Ziele und Instrumente der Agenda 2010 zu formulieren, was aber auch nie von ihm gefordert wurde. Denn die Eckpunkte der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik werden seit Jahrzehnten im engen institutionellen Geflecht zwischen Politik, Wissenschaft, Unternehmen, Lobbygruppen sowie Einzelpersonen und den nachgeschalteten Massenmedien be- und verhandelt. Potentielle »Vetospieler« aus den Reihen der Gewerkschaft und der Wohlfahrtsverbände, der sozialen Bewegung und/oder Wissenschaft werden bei Bedarf bis zu einem gewissen Grad eingebunden. Weitergehende Analysen werden ausgeblendet und/oder stigmatisiert, folglich konzentriert sich der Streit um die »Reformen« stets nur auf die Geschwindigkeit, Tiefe und Instrumente, nie geht es um deren Sinn und Zweck. In dieser Hinsicht ist die Agenda 2010 eben keine Erfindung genialer Parteistrategen oder intellektueller Schwergewichte um die »rot-grüne« Regierung. Sie ist ein Surrogat von Positionen der seit den 70er Jahren geführten Standortdebatten, angereichert mit Versatzstücken der neoliberalen Sozialstaatskritik. Die Eckpunkte der Agenda-Politik mit der entsprechenden Rhetorik finden sich bereits 1998 im Buch des SPD-Wahlkampfstrategen und späteren Kanzleramtsministers Bodo Hombach »Aufbruch – Die Politik der neuen Mitte«. Von Hombach eingespielt wird der zweite Aufguß der Thesen im Schröder-Blair-Papier 1999 verbreitet. Die Rede vom »aktivierenden Sozialstaat« und vom »Fordern und Fördern« gepaart mit einer unreflektierten Idealisierung von Innovationen, Wettbewerb, Marktmechanismen und der Leistungsträger tauchen in allen Debatten zur »Neuen Mitte« sowie zum »Dritten Weg« auf und bestimmten Ende der 90er Jahre die Posi­tionsfindung fast aller sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien in Europa.

Komplementär wurden in der gleichen Phase identische Reformvorschläge für den Bereich der sozialen Sicherung und zur Förderung von mehr Wettbewerb und der »Wirtschaft« in den europäischen Institutionen gebündelt. Kulminationspunkt am Höhepunkt der »New Economy«-Euphorie war die sogenannte Lissabon-Strategie der EU-Kommission, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, innovativsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Um im globalen Konkurrenzkampf zu bestehen, sollten alle strukturellen Hindernisse auf dem Binnenmarkt abgebaut und über das Abkommen von Lissabon (zunächst als Verfassung, dann als einfaches Vertragswerk) mehr Wettbewerb auf allen Ebenen implementiert werden. Ergänzend zu den Maastricht-Kriterien und der autonomen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wurde ein dritter Rahmen konstruiert, der die nationale Wirtschafts-, Sozial- und Fiskalpolitik auf bestimmte Ziele verpflichtete. Folglich mußten die Regierungen zugehörige Reformagenden – wie in Deutschland die Agenda 2010 – formulieren und implementieren.

Probleme bleiben ungelöst

Die Kontroverse um die Effekte der Agenda 2010 rückte nach der Abwahl von SPD und Grünen im Jahr 2005 und mit Beginn der schwersten Finanz-/Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren in den Hintergrund. In Folge der daraus resultierenden massiv steigenden öffentlichen Verschuldung in den kommenden Jahren und der 2011 greifenden »Schuldenbremse« wird aber der Ruf nach radikalen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Reformen lauter werden. Entsprechend wird die in der Politik und den Medien vertretene These revitalisiert, die Agenda 2010 wäre notwendig und sogar erfolgreich gewesen. Dieser Zuspruch hängt in der Regel am Grad der parlamentarischen Beteiligung und ideologischen Begleitung der skizzierten Reformprojekte.

Zugleich folgt die Wertung dem ökonomischen Grundverständnis der Interpreten: Gilt die Verbesserung der Bedingungen für die »Wirtschaft« bzw. Unternehmen, die Reduktion der Kosten der Arbeit und der Staatsquote als entscheidend, um die Beschäftigungskrise der Industriegesellschaft zu lösen und die wachsende Ungleichheit zu minimieren, läßt sich die Agenda 2010 im Detail scharf kritisieren, zugleich jedoch deren Grundrichtung verteidigen. Schließlich hängt die Positionierung daran, wer von welchen Maßnahmen wie profitiert, wer die Lasten trägt und zu welcher Gruppe man selbst gehört. Die Bewertung der Folgen der Agenda 2010 fällt subjektiv unterschiedlich aus. Sie ist auch objektiv im Detail nicht einfach, da sich bestimmte Entwicklungen nicht immer einzelnen Reformen klar zuordnen lassen. Jede überdeterminierte Betrachtung übersieht zudem, daß die Reformen in der Sozialgesetzgebung von »Rot-Grün« vor und nach 2003 ganz in der Tradition des seit den 70er Jahren bekannten Um-/Abbaus des Sozialstaates stehen.

Trotz dieser Einschränkungen bleibt es ein Märchen, den konjunkturellen Aufschwung ab 2004 auf die Agenda 2010 zurückzuführen. Verantwortlich waren erneut der Anstieg der Exporte und Ausrüstungsinvestitionen, was das Problem der Ungleichgewichte der Leistungs- und Zahlungsbilanzen verschärfte und als zentrale Ursache der Finanz-/Wirtschaftskrise ab 2007 zu werten ist. De facto zeigen sich neuerlich die massiven Probleme der seit vier Jahrzehnten bestimmenden Strategie in Deutschland, aufbauend auf bestimmten Schlüsselbranchen (Chemie, Maschinenbau, Automobilindustrie) ständig als Exportweltmeister glänzen zu wollen. Im Hinblick auf die skizzierten Arbeitsmarktreformen konstatierte dagegen die Bundesregierung schon 2005 im Bericht »Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« das komplette Versagen von Hartz I bis III. Allein für Hartz IV fällt die offizielle Interpretation bis heute positiv aus. Allerdings konnte die großspurig behauptete Halbierung der Arbeitslosigkeit im Zyklus 2004–2007 nie erreicht werden, noch wurden neue, gut entlohnte, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in signifikanter Größe geschaffen.

Dagegen hat sich der Anteil der Zeitarbeit von 1994 bis 2006 vervierfacht und umfaßte Mitte 2007 bereits 730000 Personen. Zum selben Zeitpunkt waren 14,6 Prozent aller Arbeitsverträge in Deutschland zeitlich befristet. Gestiegen sind noch die Teilzeitarbeitsplätze über die Kombilohnmodelle und Aufstockungsmöglichkeiten von Arbeitslosengeld-II-Beziehern, was ab 2005 der flächendeckenden Subvention für Löhne bis 800 Euro gleichkommt. Bis Ende 2007 waren rund 4,9 Millionen Personen in diesen Minijobs beschäftigt, und so wurde der Niedriglohnsektor (umfaßt heute rund 22 Prozent aller Beschäftigten) in Deutschland in wenigen Jahren annähernd so groß wie in den USA.

Der Rückgang der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosigkeit seit Ende 2003 erklärt sich also erstens aus dem Anstieg der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Zweitens entstanden im Konjunkturaufschwung wie immer auch neue Arbeitsplätze, drittens gab es Modifikationen in der Arbeitslosenstatistik. Es wird also ein Zusammenhang zwischen der Agenda 2010 und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit nach 2004 suggeriert, für den es keine belastbaren Zahlen gibt. Die offizielle Zahl aller Leistungsbezieher von ALG I, ALG II und von Personen in den geförderten Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit blieb über den Zyklus hinweg relativ konstant bei rund sieben Millionen. Die Reformen am Arbeitsmarkt veränderten jedoch direkt das gesamte Lohngefüge so stark, daß die Reallöhne im mäßigen Konjunkturaufschwung stagnierten und sogar sanken – eine einmalige Situation in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die binnenwirtschaftlichen Impulse für Wachstum und Beschäftigung fallen schon seit Jahren in Deutschland viel zu gering aus, stets muß deshalb die ausländische Nachfrage für eine Konjunkturbelebung herhalten. Im Ergebnis werden die Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt an das Ausland delegiert, die sich ihrerseits verschulden und/oder die gleiche Politik wie mit der Agenda 2010 einführen müssen.

Auch ist in den letzten sieben Jahren die soziale Polarisierung über die Steuerreformen, Gemeinde­finanzreformen, die Reformen im Gesundheitsbereich sowie der Alterssicherung nicht minimiert worden, im Gegenteil. Die generelle Entwicklung läßt sich in drei Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung sogar selbst ablesen und ist prinzipiell sehr gut dokumentiert. Ebenso wird in unzähligen Dokumenten der OECD bescheinigt, daß Deutschland schon 2003 am unteren Ende der Skala der effektiven Besteuerung hoher und höchster Einkommen und Vermögen sowie Profite und bei den Abgaben rangiert. In dieser Hinsicht haben die skizzierten Reformen lediglich nur die strukturellen Einnahmeausfälle der öffentlichen Haushalte vergrößert, was dann angeführt wird, um die Ausgaben zurückzufahren und die Haushalte zu konsolidieren.

Seit Jahren wird gleichfalls von der OECD darauf hingewiesen, daß in keinem Industrieland die Korrelation zwischen dem Grad der Bildung/Ausbildung und der sozialen Herkunft so eng ist wie in Deutschland. Schließlich wird mittlerweile offiziell zur Kenntnis genommen, daß durch alle bisherigen Rentenreformen das Risiko der Altersarmut selbst für weite Teile der Mittelschicht stark gestiegen ist. Schließlich hat sich trotz aller Gesundheitsreformen an der Fehlallokation, der Unterversorgung und den vermachteten Strukturen nichts geändert. Das Preiskartell der Pharmaindustrie ist ungebrochen und die ineffiziente Doppelstruktur von gesetzlichen und privaten Kassen intakt. Die Eigenleistungen der Versicherten haben, wie deren Beiträge für die Altersvorsorge, deren Realeinkommen reduziert, und trotz wachsender Zuflüsse in den Gesundheitssektor hat sich eine Zweiklassenmedizin und die Rationierung medizinischer Leistungen etabliert.

Agenda 2020?

Seit Schröders Agenda-Rede im März 2003 sind die Grundprobleme – Massenarbeitslosigkeit, soziale Polarisierung und ökonomische Wachstumsschwäche – ungelöst. Mit den skizzierten Reformen konnten die Probleme ohnehin nie gelöst werden, jedoch wurden institutionelle und sozialrechtliche Fakten geschaffen und Weichen gestellt. Nach der großen Koalition setzt nun die CDU/CSU-FDP-Regierung problemlos dort an, und je nachdem, wie sich die Situation in diesem Jahr entwickelt, läßt sich der neoliberale Umbau nach kurzer Unterbrechung durch die jüngste Finanz-/Wirtschaftskrise weiter forcieren. Brachiale Veränderungen bei der sozialen Sicherung sind unnötig, im besten Fall für »Schwarz-Gelb« reicht das Warten und die Fortsetzung der bisherigen Politik. Beispielsweise spricht angesichts der bereits vollzogenen Abwicklung jeder sinnvollen Arbeitsmarktpolitik und dem Umbau der Bundesagentur für Arbeit nur noch wenig gegen die weitgehende Privatisierung der Arbeitsvermittlung. Konsequent in der Logik der Agenda 2010 gedacht sind auch alle Forderungen zur einkommensunabhängigen Gesundheitsprämie (Kopfpauschale), zur kapitalgedeckten Komponente in der Pflegeversicherung und nach weiterer Privatisierung der Alterssicherung.

Selbstredend lassen sich diese Positionen angesichts der noch nicht absehbaren Folgen der jüngsten Finanz-/Wirtschaftskrise und der konkreten Entwicklungen der kommenden Jahre noch nicht deutlich artikulieren. Da aber die soziale Sicherung für große Teile der Bevölkerung bereits auf das Niveau einer Grundsicherung reduziert worden ist und die Langzeitfolgen der Ausweitung des Niedriglohnsektors, der Polarisierung der Einkommen und Rentenreformen die Gesellschaft bisher nicht in voller Wucht erfaßt haben, wird sich der Widerstand gegen den weiteren Sozialabbau ohnehin in Grenzen halten.

In dieser Hinsicht war die Agenda 2010 ein Erfolg: Sie hat nicht nur dazu beigetragen, die ökonomischen Grundlagen der sozialen Sicherung für Wachstum und Entwicklung sowie eine progressive Nutzung des Reichtums zu unterminieren, sondern die Legitimation des demokratischen Sozialstaats stark beschädigt.

Darüber hinaus fehlt es auch sieben Jahre nach der Regierungserklärung zur Agenda 2010 im linken politischen Lager an der Formulierung einer stringenten, alternativen Struktur- und Industriepolitik und der dazugehörigen Beschäftigungs-, Steuer-, Sozial- und Finanzpolitik. Schließlich fehlt es bei aller punktuellen Kritik und vereinzelten Widerständen in der Breite auch (noch) an den Personen in- und außerhalb der Parlamente, die eine solchermaßen progressive und zugleich radikale Reformagenda gegen massive Anfeindungen seitens des Staatsapparates, weiten Teilen des Kapitals und einigen Medien überzeugt formulieren und vor allem auch verteidigen würden.

Christian Christen ist Mitglied der Memorandum-Gruppe und des wissenschaftlichen Beirats von ATTAC-Deutschland

Quelle: jungewelt 06.01.2010  www.jungewelt.de

6. Januar 2010 Posted by | CDU/FDP, Deutschland, Grüne, Grüne/Bündnis 90, News, Politik, Sozialpolitik, SPD | , , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Eine kritische Bilanz zu Hartz IV

Eine kritische Bilanz von Hartz IV fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1.1.2005


Die sog. Hartz-Gesetze, vor allem das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene vierte als ihr unrühmlicher Höhepunkt, sind Kernbestandteil eines Projekts zur Restrukturierung der Gesellschaft, das die ganze Architektur und die innere Konstruktionslogik des bisherigen Sozialstaates in Frage stellt. Es ging dabei nicht bloß um Leistungskürzungen in einem Schlüsselbereich des sozialen Sicherungssystems, vielmehr um einen Paradigmawechsel, anders formuliert: um eine gesellschaftliche Richtungsentscheidung, die das Gesicht der Bundesrepublik seither prägt. Die rot-grüne, durch eine Mehrheit der damaligen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP im Bundesrat und die Kompromissbereitschaft der Regierungsparteien radikalisierte Arbeitsmarktreform hat unser Land so tiefgreifend verändert, dass es kaum übertrieben erscheint, von der „Hartz-IV-Republik“ oder der „Hartz-IV-Gesellschaft“ zu sprechen. Von Christoph Butterwegge

Mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt waren einschneidende Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht verbunden. Hartz IV markierte nicht bloß eine historische Zäsur für die Entwicklung von Armut bzw. Unterversorgung in Ost- und Westdeutschland, sondern es steht als Symbol für die Transformation des Sozialstaates, für seine Umwandlung in einen Minimalstaat, der Langzeitarbeitslose gemäß dem Motto „Fördern und fordern!“ zu „aktivieren“ vorgibt, sich aber aus der Verantwortung für ihr Schicksal weitgehend verabschiedet.

Bundeskanzler Schröder erklärte am 14. März 2003 in seiner berühmt-berüchtigten Rede zur Agenda 2010, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: „Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“ Was wegen des Zwittercharakters der Arbeitslosenhilfe (Alhi) – sie war durch Beitragszahlungen begründet und von der früheren Höhe des Arbeitsentgelts ihres Beziehers abhängig, jedoch steuerfinanziert und bedürftigkeitsgeprüft – hätte sinnvoll sein können, um eine Politik der „Verschiebebahnhöfe“ zwischen beiden Hilfesystemen zu beseitigen, führte allerdings nicht zu einer Grundsicherung auf höherem Niveau, sondern einer Schlechterstellung von sehr vielen Menschen sowie einer gleichfalls problematischen Aufspaltung der Sozialhilfeempfänger/innen in erwerbsfähige, die Arbeitslosengeld (Alg) II beziehen, und nichterwerbsfähige, die Sozialgeld bzw. -hilfe erhalten. Daraus wiederum erwuchsen neue Gefahren einer Stigmatisierung nach dem Grad der Nützlichkeit bzw. nach der ökonomischen Verwertbarkeit dieser Personen.

Einerseits zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte im untersten Einkommensbereich, andererseits wandelten sich durch Hartz IV auch die Struktur des Wohlfahrtsstaates (Abschied vom Prinzip der Lebensstandardsicherung), die politische Kultur und das soziale Klima der Bundesrepublik. Mit dem, was gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiativen als „Verfolgungsbetreuung“ charakterisieren, wurde der Kontrolldruck auf (potenzielle) Leistungsbezieher/innen spürbar erhöht sowie eine Verletzung der Privat- und Intimsphäre durch „Sozialdetektive“ vorprogrammiert. Hartz IV hat also sehr viel mehr bewirkt, als gesetzlich zu verankern, dass Millionen frühere und potenzielle Alhi-Empfänger/innen seither weniger Geld erhalten.

Ausweitung des Niedriglohnsektors

Durch die Umsetzung des im Vermittlungsausschuss von Bundestag und -rat noch weiter radikalisierten Konzepts der sog. Hartz-Kommission (Ausweitung nicht nur „haushaltsnaher“ Mini-Jobs sowie der Leih- bzw. Zeitarbeit) hat der Niedriglohnsektor enorm an Bedeutung gewonnen. Den armen Erwerbslosen, die das Fehlen von oder die unzureichende Höhe der Entgeltersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwirft, treten massenhaft erwerbstätige Arme zur Seite. Längst reichen selbst viele Vollzeitarbeitsverhältnisse (besonders in Ostdeutschland) nicht mehr aus, um „eine Familie zu ernähren“, sodass man einen oder mehrere Nebenjobs übernimmt und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (schwarz) weitergearbeitet wird.

Hartz IV sollte nicht bloß durch Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Wohlfahrt den Staatshaushalt entlasten, sondern auch durch Einschüchterung der Betroffenen mehr „Beschäftigungsanreize“ im Niedriglohnbereich schaffen. Man zwingt sie mit Hilfe von Leistungskürzungen, schärferen Zumutbarkeitsklauseln und Maßnahmen zur Überprüfung der „Arbeitsbereitschaft“ (vor allem sog. 1-Euro-Jobs), fast jede Stelle anzunehmen und ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die (noch) Beschäftigten und die Angst in den Belegschaften vermehrt. Dass heute selbst das Essen von Frikadellen und die Einlösung von Pfandbons im Wert von 1,30 Euro als Kündigungsgründe herhalten müssen, zeigt zusammen mit der Bespitzelung von Betriebsrät(inn)en in großen Konzernen, wie sich das Arbeitswelt verändert hat.

Da trotz des irreführenden Namens „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ auch immer mehr (voll) Erwerbstätige das Alg II als sog. Aufstocker, d.h. im Sinne eines „Kombilohns“ in Anspruch nahmen bzw. nehmen mussten, um leben zu können, etablierte Hartz IV ein Anreizystem zur Senkung des Lohnniveaus durch die Kapitalseite. Ein staatlich subventionierter Niedriglohnsektor vermehrt die Armut, statt auch nur ansatzweise zur Lösung dieses Kardinalproblems beizutragen. Mittlerweile hat die Bundesrepublik unter den entwickelten Industriestaaten den breitesten Niedriglohnkorridor nach den USA. Trotz des im Wesentlichen konjunkturell bedingten Rückgangs der offiziell registrierten Arbeitslosigkeit leiden heute in der Bundesrepublik wahrscheinlich mehr Menschen unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen als vor dem 1. Januar 2005.

Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland

Da die Zumutbarkeitsregelungen mit Hartz IV erneut verschärft und die Mobilitätsanforderungen gegenüber (Langzeit-)Arbeitslosen noch einmal erhöht wurden, haben sich die Möglichkeiten für Familien, ein geregeltes, nicht durch permanenten Zeitdruck, Stress und/oder räumliche Trennung von Eltern und Kindern beeinträchtigtes Leben zu führen, weiter verschlechtert. Auf dem Höhepunkt des zurückliegenden Konjunkturaufschwungs, im März 2007, lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fast 1,929 Mio. Kinder unter 15 Jahren (von knapp 11,5 Mio. dieser Altersgruppe insgesamt) in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, die landläufig „Hartz-IV-Haushalte“ genannt werden. Rechnet man die übrigen Betroffenen – Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und von sog. Illegalen, die gar keine Transferleistungen beantragen können – hinzu und berücksichtigt außerdem die sog. Dunkelziffer – d.h. die Zahl jener eigentlich Anspruchsberechtigter, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen – , leben etwa 2,8 Millionen Kinder, d.h. mindestens jedes fünfte Kind dieses Alters, auf oder unter dem Sozialhilfeniveau.

Verschärft wird das Problem durch erhebliche regionale Disparitäten (Ost-West- und Nord-Süd-Gefälle). So lebten in Görlitz 44,1 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in Hartz-IV-Haushalten, während es im ausgesprochen wohlhabenden bayerischen Landkreis Starnberg nur 3,9 Prozent waren. Wie die traurige Rekordhöhe der Kinderarmut, welche auf dem Höhepunkt nach dem Inkrafttreten der größten Arbeitsmarktreform am 1. Januar 2005 beweist, gehören Heranwachsende zu den Hauptverlierer(inne)n von Hartz IV.

Hartz IV trug durch das Abdrängen der Langzeitarbeitslosen samt ihren Familienangehörigen in den Fürsorgebereich dazu bei, dass Kinderarmut „normal“ wurde, was sie schwerer skandalisierbar macht. Auf das Leben der Kinder, die zur „unteren Schicht“ gehören, wirkte sich das Gesetzespaket wegen der katastrophalen Lage des Arbeitsmarktes in den östlichen Bundesländern besonders verheerend aus. Die finanzielle Lage von Familien mit Alhi-Empfänger(inne)n verschlechterte sich durch den Übergang zum Alg II, was erhebliche materielle Einschränkungen für betroffene Kinder einschloss. Betroffen sind auch diejenigen Kinder, deren Väter aufgrund ihres gegenüber der Arbeitslosenhilfe niedrigeren Arbeitslosengeldes II keinen oder weniger Unterhalt zahlen (können), denn die Unterhaltsvorschusskassen bei den Jugendämtern treten nur maximal 6 Jahre lang und auch nur bis zum 12. Lebensjahr des Kindes ein.

Nicht nur die materielle Situation, sondern auch die Position von Frauen und (alleinerziehenden) Müttern auf dem Arbeitsmarkt hat sich verschlechtert. Die sog. Mini- und Midi-Jobs übernehmen größtenteils Frauen. „Haushaltsnahe Dienstleistungen“, die sie erbringen sollen, heißt im Wesentlichen, dass ihnen Besserverdienende, denen dafür nach einem vorübergehenden Wegfall des sog. Dienstmädchenprivilegs nun auch wieder Steuervergünstigungen eingeräumt werden, geringe (Zu-)Verdienstmöglichkeiten als Reinigungskraft oder Haushälterin bieten. Ist die „Mini-Jobberin“ mit einem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten verheiratet, braucht sie wegen der kostenfreien Familienmitversicherung keine Krankenkassenbeiträge zu entrichten. Um die vollen Leistungen der Rentenversicherung in Anspruch nehmen zu können, muss eine (Putz-)Frau jedoch ergänzende Beiträge zahlen. Selbst dann lässt sich Altersarmut kaum vermeiden. Gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zwischen den Altersrenten von Männern und Frauen weiter zu Lasten der Letzteren.

Eine soziale Grundsicherung, wie sie das Arbeitslosengeld II laut Gesetzestext sein möchte, muss vor Armut schützen, damit sie diesen Namen verdient. Das kann man in Anbetracht der äußerst niedrigen Regelleistungen beim Alg II allerdings nicht behaupten. Mehr qualifizierte Arbeitsplätze mit ausreichend hohen Löhnen bzw. Gehältern, ein dichtes Netz öffentlicher (Ganztags-) Kinderbetreuungseinrichtungen und Gemeinschaftsschulen bilden den Schlüssel zur Bekämpfung der Kinderarmut.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt ist sein Buch „Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2009) erschienen.

Quelle: www.nachdenkseiten.de

05.01.2010

6. Januar 2010 Posted by | CDU/FDP, Deutschland, Grüne/Bündnis 90, News, Politik, Sozialpolitik, SPD | , , , , , | Hinterlasse einen Kommentar

Grüne im Saarland: Verkommener geht’s nicht

Der Pate von Saarbrücken, Hartmut Ostermann (FDP), saß bei Sondierungsgeprächen am Tisch!

Zweifel an Jamaika wachsen

SAARLAND Grünen-Landeschef Ulrich unter Druck: Er arbeitete für einen FDP-Unternehmer. Regionalpresse: Eine rot-rot-grüne Koalition wäre für die Grünen ertragreicher gewesen

AUS SAARBRÜCKEN KLAUS-PETER KLINGELSCHMITT

Der Beschluss der Saar-Grünen vom 11. Oktober, das Saarland zusammen mit CDU und FDP regieren zu wollen, habe zu „keinen dramatischen Fluchtbewegungen aus der Partei geführt“, berichtet die neue Geschäftsführerin der Landtagsfraktion, Claudia Beck. In den zwei Wochen nach dem Parteitag seien 35 Austritte registriert worden. Es habe aber auch zehn Eintritte in die Partei gegeben.

Wohl aber nicht wegen „Jamaika“. Martin Dauber aus Blieskastel jedenfalls berichtet, dass in der Barockstadt zwei junge Menschen den Grünen beigetreten seien, weil die Delegierten aus Blieskastel nahezu geschlossen gegen „Jamaika“ gestimmt hätten. Und dass sie diese konsequent konträre Haltung der Blieskasteler zur „Jamaika-Linie“ von Partei- und Landtagsfraktionschef Hubert Ulrich stark beeindruckt habe.

Die „unglaublich vielen Delegierten aus Saarlouis“ – dem Heimatortsverein von Ulrich – macht Walter Neyses aus Dillingen für den Parteitagsbeschluss pro „Jamaika“ mit verantwortlich. Neyses trat vergangene Woche aus der Partei aus, auch weil er sich durch die Parteitagsregie in seinem Rederecht beschnitten sah. Ein schwerer Verlust für die Grünen Saar, denn Neyses verfügt über beste Verbindungen zu den Bürgerinitiativen und war der einzige Grüne im Rat der Stadt. Er bestätigt auf taz-Nachfrage auch die umlaufenden Gerüchte, wonach Ulrich im Vorfeld des Parteitags viele Grüne angerufen und dazu animiert habe, für „Jamaika“ die Hand zu heben. „In unserem Ortsverein wurden alle vorher vom Chef instruiert!“, sagt Neyes.

Seit diesem Wochenende wird Ulrich auch vorgehalten, als Landtagsabgeordneter bis zum 1. Oktober in einer Firma gearbeitet zu haben, die dem Kreisvorsitzenden der Saarbrücker FDP, dem Unternehmer und Multimillionär Hartmut Ostermann, zum großen Teil gehört. Dieser heißt im Saarland auch der „Pate von Saarbrücken“.

Ostermann saß bei den Sondierungsgesprächen mehrfach mit am Tisch. Die Grünen in Saarbrücken „wundern“ sich nun und wollen eine „parteiinterne Diskussion“ darüber initiieren. Und die Grünen im Kreisverband Merzig-Wadern verlangen vom Landesvorstand Aufklärung darüber, ob Ostermann der Partei vielleicht auch Geld gespendet habe.

Man müsse den Einsatz von Ulrich für ein Bündnis mit FDP und CDU nun wohl „in einem ganz anderen Licht sehen“, konstatiert SPD-Generalsekretär Reinhard Jost süffisant. Die Linke Saar, der Ulrich „Unzuverlässigkeit“ vorgeworfen hatte, spricht von „gekaufter Politik“ und fordert seinen Rücktritt. Ulrich weist alle Vorwürfe zurück: „Absolute Luftnummern!“ Er habe in der Firma gearbeitet, um sich neben der Politik ein berufliches Standbein zu erhalten. Zudem habe er diese Nebentätigkeit, die ihm 1.500 Euro brutto eingebracht habe, ordnungsgemäß ausgewiesen.

Die Saarbrücker Zeitung hat jetzt auch die Ergebnisse der Sondierungsgespräche noch einmal miteinander vergleichen. Sie kommt dabei zu dem eindeutigen Schluss, dass die Grünen – ganz im Gegensatz zu den Behauptungen von Ulrich – mit SPD und Linken auf vielen Politikfeldern doch sehr viel mehr grüne Programmatik hätten verwirklichen können als jetzt mit CDU und FDP. Am 2. November beginnen die eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Am 15. November soll ein Parteitag der Grünen Saar den Koalitionsvertrag und das Regierungspersonal absegnen. Viele Grüne glauben, dass es dafür dann – anders als auf dem Koalitionsparteitag am 11. Oktober – keine Zweidrittelmehrheit mehr geben wird.

TAZ 27.10.09

27. Oktober 2009 Posted by | CDU/FDP, Die LINKE, Grüne, Grüne/Bündnis 90, Politik | 3 Kommentare